AOK-Studie:Zweifel am Halbgott in Weiß

Arztpraxis

Ein Hausarzt misst den Blutdruck einer Patientin.

(Foto: dpa)
  • Immer mehr Patienten in Bayern glauben, dass sie Opfer von Behandlungsfehlern sind - gerade in der Chirurgie und Orthopädie.
  • Durchschnittlich ergebe sich aus etwa jedem sechsten Verdacht "ein bestätigter Behandlungs- beziehungsweise Pflegefehler", heißt es in einer Studie der AOK.

Von Dietrich Mittler

Im Freistaat steigt offenbar die Zahl jener Patienten, die die Qualität ihrer medizinischen Behandlung kritisch bewerten und in der Folge gar vermuten, von ihrem Arzt falsch behandelt worden zu sein. Zu diesem Schluss kommt der jüngste Bericht über die Arbeit des Behandlungs- und Pflegefehlermanagements der AOK Bayern. Durchschnittlich ergebe sich aus circa jedem sechsten Verdacht "ein bestätigter Behandlungs- beziehungsweise Pflegefehler", heißt es in dieser Studie. Für den Berichtszeitraum 2015 und 2016 bedeutet dies knapp tausend Fälle, in denen die damit betrauten AOK-Patientenberaterinnen und -berater Behandlungsfehler bestätigen konnten.

Für die Versicherten sei die Arbeit der beiden Beratungsstellen mit Sitz in Ingolstadt und Bamberg eminent wichtig, um womöglich berechtigte Schadenersatz- und Schmerzensgeldforderungen durchfechten zu können - etwa gegenüber ihrem Arzt oder dem Krankenhaus, in dem sie behandelt wurden. Einerseits werde den Betroffenen so ermöglicht, die an ihnen als Patienten erfolgten Behandlungsabläufe "richtig einzuschätzen und zu bewerten". Andererseits fungierten die Berater auch als "Lotsen der Versicherten durch die Komplexität des Arzthaftungsrechts", wenn sich denn nach umfänglicher Prüfung in Zusammenarbeit mit dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) herausstelle, dass tatsächlich ein Behandlungsfehler vorliege.

Aber auch für die Krankenkasse hat sich offenbar das Engagement im Bereich Behandlungs- und Fehlermanagement ausgezahlt: Von den Verursachern der Behandlungsfehler konnte die AOK seit dem Jahr 2000 rund 92,5 Millionen Euro an Regress erfolgreich einfordern - Geld der Solidargemeinschaft, das die Kasse zuvor in die letztlich misslungene Behandlung gesteckt hatte. Wie Helmut Platzer, der Chef der AOK Bayern, betont, werde seine Kasse die neuen Erkenntnisse jetzt nutzen, "um mit den Leistungserbringern Gespräche zur Entwicklung einer Fehlervermeidungskultur und Prävention zu führen".

Die meisten Verdachtsfälle wurden dem neuen Bericht zufolge "in den operativen Fächern" - wie etwa der Chirurgie und der Orthopädie - festgestellt. Im vergangenen Jahr waren den AOK-Beratungsstellen Nord und Süd von ihren Versicherten insgesamt 3102 neue Verdachtsfälle zur Prüfung gemeldet worden. In München etwa ergaben sich den Angaben der Kasse zufolge immerhin 402 Verdachtsfälle, was allerdings auch mit der dort bevölkerungsbedingt höheren Zahl an Behandlungsfällen zu tun hat.

Neben der AOK Bayern bietet auch die Bayerische Landesärztekammer in strittigen Fällen eine Gutachterstelle an, die - anders als das AOK-Angebot - auch den Versicherten anderer Krankenkassen zur Verfügung steht. Max Kaplan, der Präsident der Landesärztekammer, sagt: "Wir haben jährlich im Schnitt tausend Gutachtungsfälle. In denen handelt es sich dann in rund 33 Prozent um Behandlungsfehler."

Auf diesen Wert kommen auch die AOK-Beratungsstellen. "Wir haben hier eine gewisse Konstanz, also auf jeden Fall keine Steigerung", sagt Kaplan mit Blick auf die kammernahe Gutachterstelle. Eines sei dabei aber klar: "Jeder Behandlungsfehler ist einer zu viel." Deshalb tue die Landesärztekammer alles, um solche Fehler künftig zu verhindern. Ein Schritt zu mehr Patientensicherheit sei zum Beispiel das öffentlich zugängliche Register CIRS (Critical Incident Reporting System), bei dem freiwillig und anonymisiert Fälle geschildert werden können, in denen eine Behandlung beinahe schiefgegangen wären. Überdies gebe es das bundesweite System der Landesärztekammern, mit dem medizinische Fehler aufgezeichnet werden - kurz MERS (Medical Error Reporting System).

Diese beiden Meldesysteme reichen aber aus Sicht der AOK nicht aus. "Mangels einer unsystematischen Erfassung bleibt unklar, wie viele und welche Behandlungsfehler bei den verschiedenen Leistungserbringern, deren Haftpflichtversicherern sowie bei Rechtsanwälten und Gerichten bekannt werden", sagt Dominik Schirmer, der bei der AOK Bayern für den Verbraucherschutz zuständig ist und die neue Studie zu verantworten hat.

Die Kasse fordert aktuell ein "neutrales und bundeseinheitliches Zentralregister über Behandlungsfehler". Aus Sicht der Landesärztekammer ist das aber gar nicht mehr nötig. Laut Kaplan gebe es bereits Gespräche zwischen der Bundesärztekammer und dem MDK, die Erfassungssysteme "zu harmonisieren". Dabei nehme man dann gerne auch noch die unabhängigen Patientenberatungsstellen mit ins Boot. "Wir wollen auf jeden Fall keinen neuen Bürokratie-Wahnsinn aufbauen", stemmt sich Kaplan gegen den AOK-Vorstoß. Ihm geht es zudem gegen den Strich, dass die AOK jetzt bei Behandlungsfehlern generell eine Umkehr der Beweispflicht einfordert, damit Patienten nicht länger mühsam die Beweise für eine Fehlbehandlung zusammentragen müssen. "Die Beweislastumkehr sollte wie bisher nur in schweren Fällen stattfinden, aber nicht grundsätzlich", sagt Kaplan. Letztlich führe das nur zu "einer Misstrauenskultur", und zu einer "Defensivmedizin, bei der Ärzte keinerlei Risiken mehr eingehen".

Politisch gesehen ist jedoch die AOK-Position stark im Kommen. Auch Hermann Imhof, der Patienten- und Pflegebeauftragte der Staatsregierung, spricht sich dezidiert dafür aus, "die bestehenden Beweisregelungen für Opfer von Behandlungsfehlern zu erleichtern". Schließlich gehe es hier darum, endlich "eine Gerechtigkeitslücke" zu schließen.

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