Straffällige Jugendliche:Therapie im Moor

Resozialisierung statt Knast: Straffällig gewordene Jugendliche sollen im "Projekt Tagwerk" durch Arbeit wieder an ein normales Leben herangeführt werden. Ein Besuch.

Dietrich Mittler

Unter der Wucht der Axthiebe bebt der ganze Stamm. Marcos kräftiger Körper schnellt nach oben. Sekundenbruchteile später fährt sein schweres Arbeitsgerät erneut auf die gefällte Fichte nieder, trennt den nächsten Ast vom Stamm. Der Schweiß perlt von Marcos Stirn, doch er lässt nicht nach. Hieb um Hieb, so scheint es, schlägt sich der 17-Jährige den Weg frei - vorwärts in eine bessere Zukunft.

Straffällige Jugendliche: Das Schleppen der Bäume ist schweißtreibende Arbeit für die Jugendlichen.

Das Schleppen der Bäume ist schweißtreibende Arbeit für die Jugendlichen.

Marco (Name und Alter aller Jugendlichen wurden geändert) hat vom Gericht noch einmal "einen Warnschuss bekommen", wie seine Kumpel sagen. Bis zur Weißglut provoziert, hatte er zugeschlagen, und am Ende lagen zwei übel zugerichtete Menschen blutend am Boden. Dafür gehen andere in den Knast. Der bislang unbescholtene Lehrling indes hatte Glück: Er darf am Resozialisierungsprojekt "Tagwerk" teilnehmen, das die Jugendhilfe-Organisation "Brücke Oberland" und das Zentrum für Umwelt und Kultur seit 2008 gemeinsam anbieten.

Unweit vom Kloster Benediktbeuern wartet auf Marco und weitere fünf Heranwachsende im Alter von 16 bis 21 Jahren die erste Aufgabe: In fünf Tagen sollen sie die mit greller Neonfarbe markierten Fichten fällen, ihre Stämme im alten Sägewerk und in der Schreinerei des Klosters zu Brettern verarbeiten, die wiederum zum Bau eines Dammes gut einen Meter tief im Torfboden eingegraben werden - und zwar genau dort, wo vor ungefähr 70Jahren Drainagegräben gezogen wurden, um das Kochelsee-Loisach-Moor zu entwässern.

Als Folge der schweißtreibenden Plackerei wird dank der neuen Dämme der Grundwasserspiegel langsam wieder ansteigen, das Hochmoor wird mit seiner natürlichen Pflanzenwelt zurückkehren. Seltene Tiere werden dort wieder eine Heimat finden - und sechs junge Männer hoffentlich erkennen, was bislang in ihrem Leben schiefgelaufen ist.

"Die Jungs hier haben alle ein deftiges Sündenregister: Körperverletzung, Einbruch, Diebstahl, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, Schwarzfahren - über Jahre hinweg, Fahren ohne Führerschein", sagt Oliver Hoffmann. Sein gerader Blick, die verschränkten muskulösen Arme, die Sonnenbrille im kurz geschorenen Haar geparkt - all das hat eine klare Botschaft: "Jungs, hier mache ich die Ansagen!" Keiner der jungen Männer rebelliert.

Hoffmanns körperbetonter Auftritt imponiert offensichtlich. "Aber das ist nur die eine Seite der Medaille", betont der gebürtige Allgäuer, "denn ich bin trotz meiner Muskeln keiner, der sich dadurch profiliert, dass er andere zusammenschlägt." Und das bringe das bisherige von Gewalt geprägte Männerbild der Jungs gehörig durcheinander.

Der 40-jährige selbständige Sozial- und Erlebnispädagoge mit Zusatzausbildung als Coach und Familientherapeut weiß um die Macht der Bilder. "Dieser Damm und alles andere, was wir hier in den kommenden fünf Monaten erarbeiten, birgt eine gewisse Metaphorik", sagt er. Anhand von diesen Eindrücken würden seine Jungs schließlich erkennen, "wie die Dinge im Leben zusammenhängen, und welche Auswirkungen selbst kleine und unbedeutsam erscheinende Veränderungen für ihre eigene Lebenswelt haben".

Entwicklungen brauchen Zeit

Auch das werden sie im besten Fall lernen: Entwicklungen brauchen ihre Zeit - so wie das Hochmoor mit seinen Molchen, den Ringelnattern und den seltenen Froscharten nicht von einem auf den anderen Tag zurückkehrt.

Gleich beim ersten Treffen haben die jungen Projektteilnehmer einen Vertrag unterschrieben, der einen klaren Rahmen vorgibt: "Wenn du hier Drogen oder Alkohol konsumierst, wenn du hier eine Straftat begehst, wenn du hier nicht pünktlich bist, wenn du hier nicht mitwirkst, dann gehst du - umgehend, zack, zack", beschreibt Hoffmann das Regelwerk in einer Sprache, die von allen hier im Moor verstanden wird.

"Die Jungs hier brauchen keinen abgehobenen Therapeuten, der ihnen sagt, wie schlimm sie es in ihrer Kindheit gehabt haben. Die brauchen jemanden, der sagt: Okay, ich verstehe dich, kein Thema, aber ich erwarte auch was von dir, Bursche", sagt Hoffmann, der das Projekt "Tagwerk" gemeinsam mit Matthias Fischer vom Benediktbeurer Zentrum für Umwelt und Kultur entwickelt hat. Fischer, ebenfalls Sozialpädagoge und von der Statur her ein Mann wie ein Bär, hat die Jugendlichen jetzt genau im Blick.

Es wird gefährlich. Das Surren der Wiegesäge verstummt. "Baum fällt", ertönt eine junge Stimme. Ein kurzes, berstendes Krachen übertönt das Zwitschern der Vögel. Dann ein dumpfer Aufschlag von mehreren hundert Kilo Holz im weichen Moorboden. "Das war's", sagt Fischer lakonisch.

Dann aber geht mit ihm die Begeisterung durch. "Hier wird jetzt ein ganz natürlicher Urwald nachwachsen", schwärmt er den Jugendlichen vor, zählt die Tierarten auf, die irgendwann wieder heimisch werden. "Bis hin zur Piratenspinne, die kleine Fische frisst. Und die Fledermäuse, habt ihr die bemerkt - Wahnsinn, gell?", fragt er. "Ja, die sind cool, die Viecher", sagt einer der jungen Männer, dem sechs bis neun Monate Haft drohen, falls er seine an das "Tagwerk" gebundenen Auflagen nicht erfüllt.

"Ich habe im Internat damit angefangen, dass ich Mist gebaut habe", sagt er. Leider habe er immer erst hinterher darüber nachgedacht, was er wieder angestellt habe. "Ich war schon einmal für ein paar Stunden in der Zelle, da will ich nicht noch mal rein", sagt er schließlich. Seine Chancen, auf geordnete Bahnen zu kommen, stehen statisch gesehen gar nicht so schlecht. "Gefühlte 85 bis 90 Prozent unserer Jungs schaffen es", sagt Hoffmann.

Die Arbeit ist anstrengend

Die jungen Männer wirken jetzt erschöpft. Hoffmann greift selbst zur Axt, quält sich durchs Unterholz, schlägt an der gefällten Fichte die am schwierigsten zu erreichenden Äste ab. "Matthias und ich sind die Letzten, die nicht bereit wären, hinzulangen", sagt er. Kaum ist der letzte Ast am Boden, da erhebt er die Stimme in Richtung der Jugendlichen: "Was ist los - entspannt ihr euch? Hier ist ein Baum rauszutragen!"

Der härteste Teil der Arbeit steht bevor, nun zählt jede Hand. Unter den abgeholzten Stamm werden Querhölzer geschoben. Auf Hoffmanns Kommando heben alle an. Stöhnend, fluchend, stampfend setzen Hoffmann, Fischer und ihre Jungs Schritt vor Schritt. Immer wieder strauchelt einer im Unterholz. Dann heißt es absetzen, vorsichtig. Und wieder hoch, Zähne zusammenbeißen - dieses unglaublich schwere Ding muss noch über den feuchten Drainagegraben gehoben werden, dann erst ist der gefestigte Waldweg erreicht.

"Das sind die Erlebnisse, die uns und die Jungs zusammenschweißen, hier entsteht das Vertrauen, das wir später bei den Therapiesitzungen so dringend brauchen", sagt Hoffmann. Bereits beim Mittagessen bestätigen sich seine Worte. Einer der Jugendlichen offenbart plötzlich seine Sorge, im Knast zu landen und dort vergewaltigt zu werden. Ein anderer lässt raus, wie er im Streit sein Messer gezogen hat. Hoffmann hat schon viele dieser Geschichten gehört. Er drängt zur Eile. Marco und ein weiterer Jugendlicher sollen am Nachmittag im Sägewerk die ersten Stämme zu Brettern verarbeiten.

Draußen, vor der Tür fällt Oliver Hoffmann dann noch ein Erlebnis ein: Kürzlich erhielt er eine Nachricht von einem seiner früheren Jungs. "Hey Oliver, du musst dir jetzt keine Sorgen mehr um mich machen", stand in der Mail. "Da war ich fast zu Tränen gerührt", sagt der Sozialpädagoge.

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