Spicken in Bayern:Die Rückkehr der Zaubertinte

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Zur Prüfungszeit werden so manche Schüler und Studenten zu Schummelweltmeistern: Am liebsten greifen sie zu althergebrachten Methoden - oder fälschen mit Hilfe des Internets.

Nils Nordmann

Amerikanische Universitäten lassen während der Prüfungszeit Überwachungskameras installieren und Wachleute aufstellen, um die ausgeklügelten Tricksereien ihrer Studenten zu stoppen. So weit müssen Schulen und Hochschulen in Bayern noch nicht gehen, aber auch hier haben Schummeln und Spicken große Tradition.

Sogar im Labello werden Spickzettel versteckt. (Foto: online.sdebayern)

Was hat die neueste Generation der illegalen Hilfsmittel zu bieten? Der moderne und erfolgreiche Spicker muss sich seine Noten nicht unbedingt unter Zuhilfenahme von Science-Fiction-Methoden erschleichen, es helfen noch immer die Tricks aus den Enid-Blyton-Büchern. "Unsichtbare Tinte ist derzeit der absolute Renner", sagt Mathias Rösch. Er darf sich als Spick-Experte bezeichnen, denn der Hochschullehrer von der Universität Erlangen-Nürnberg ist Leiter des Nürnberger Schulmuseums. Mit Spickzetteln aus sechs Jahrzehnten hat sich Rösch beschäftigt.

Obwohl der "Markt" mittlerweile preiswerte Minikameras für Brillengestelle und Hemdknöpfe bereithält, lässt sich die Geheimtinte, die auf scheinbar unbeschriebenen Zetteln per UV-Licht sichtbar wird, nicht verdrängen. Befragungen haben ergeben, dass zwischen 70 und 80 Prozent aller Schüler regelmäßig schummeln, sagt Rösch. Zu Kugelschreibern mit eingelassenen Kameras oder zum Knopf im Ohr, der die Prüflinge mit vermeintlich kompetenteren Fachkollegen verbindet, greifen aber eher die amerikanischen Jugendlichen. "Der Aufwand wäre einfach unverhältnismäßig hoch", sagt Rösch. Bayerische Schüler versuchen sich also eher pragmatisch aus der Affäre zu ziehen.

"Eine Reihe freilassen"

Und an den Unis? Wird der hohe Zeitdruck in straff organisierten Bachelor-Studiengängen zu hoch oder kann sich Bayern immer noch an brav lernenden Studenten erfreuen? "Bei einigen Studenten ist das heimlich präparierte Lexikon der zeitlose Klassiker", sagt Andreas Frewer, der als Professor für Medizin und Ethik an der Universität Erlangen-Nürnberg lehrt und außerdem Mitglied der Kommission zur Untersuchung wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist. Auch der Versuch, sich heimlich per Handy auszutauschen, komme immer wieder vor, fliege aber regelmäßig auf.

Um die Versuchung zu unterbinden, setzt Andrea Boos an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) auf Altbewährtes. Die Dozentin der Betriebswirtschaftslehre leitet das Prüfungszentrum ihrer Fakultät. Ein eigenes Sicherheitsprogramm musste sie nicht erfinden, um schlitzohrigen Studenten in die Parade zu fahren. "Prüflinge weit auseinandersetzen, eine Reihe freilassen, Taschen und Jacken aus der Gefahrenzone befördern, Toilettengang nur in Ausnahmen und mit Begleitung zur WC-Tür", zählt Boos auf. Ihre Studenten seien ohnehin viel zu nervös, um während der Klausur auch noch Täuschungsmanöver zu wagen.

Weit mehr Probleme haben die Fakultäten mit Plagiaten und Fälschungen. "Bei uns werden immer wieder Abschlusszeugnisse gefälscht", sagt Boos. Fast alle Fälscher flögen jedoch auf, weil sie sich Tippfehler leisten oder das Präge-Siegel der Uni zu schlecht nachahmen. "Der Klassiker ist Diplomand mit ,t' am Ende", erzählt Boos.

Plagiate, also wörtlich kopierte fremde Texte, werden neuerdings per Computerprogramm identifiziert. Stimmen größere Textpassagen mit wissenschaftlichen Werken einer Datenbank überein, ist der Täter überführt. Diese Plagiate sind meistens schlecht gemacht, "aber noch schlimmer sind Online-Plagiate, weil der erstbeste Link kopiert wird", sagt Sven Hanuschek, Geschäftsführer der deutschen Philologie an der LMU.

Ausstellung in Nürnberg
:Die schönsten Spickzettel

Schon immer haben Schüler gespickt - und schon immer sind sie dabei erwischt worden. Das Nürnberger Schulmuseum zeigt eine Auswahl der Spickmethoden.

Hinzu kommen Fehler bei der Online-Recherche, die oft unwissentlich zu lax ist. Den jüngsten Studenten, die im Internet-Zeitalter sozialisiert wurden, fehlt oft ein Bewusstsein für geistiges Eigentum, glaubt Hanuschek. Die Online-Generation sieht sich täglich mit kopierten Texten, Bildern und Musik konfrontiert, die scheinbar ohne Urheber sind. Dass Abschreiben verwerflich ist, lässt sich vor diesen Eindrücken nur schwer nachvollziehen.

Einziger Hoffnungsschimmer: Der Gebrauch von kopierten Texten aus den Tiefen des World Wide Web oder von sorglos zitierten schlechten Quellen wird nachlassen, sobald sich die Menschen an die Allgegenwärtigkeit des Internets gewöhnt haben, glaubt Spickzettel-Forscher Rösch. "Zuerst stürzen sich alle auf die neuen technischen Möglichkeiten, doch das wird sich einpendeln." Man denke an das Revival der Zaubertinte.

An der Germanistik-Fakultät der LMU klärt der Bibliotheksleiter seine Studenten auf, wie bei der Online-Recherche vorzugehen ist. Auch die restlichen bayerischen Unis setzen auf Aufklärung statt auf Abschreckung durch harte Strafen, wie sie amerikanische Hochschulen gern verhängen. Rösch zitiert eine Studie aus den USA. Sie belege, dass harte Strafen "nichts bringen". In mehreren US-Umfragen gaben durchschnittlich 61 Prozent der Studenten zu, bei Hausarbeiten oder Examen gemogelt zu haben.

Höherer Leistungsdruck

Ursache für die vielen Täuschungsversuche ist nach Röschs Ansicht ein höherer Leistungsdruck. Die amerikanische Idee einer Überwachungskamera, quasi eines Videobeweises für Regelverstöße während der Prüfung, lehnt auch der Münchner Professor Hanuschek ab. "Das wäre bei uns rechtlich nicht umzusetzen und würde außerdem das Vertrauen zwischen Uni und Studenten unterspülen."

Spicken an sich ist für Rösch nicht das Kapitalverbrechen, für das es so mancher Lehrer halten mag. Geschummelt wird oft nur dann, wenn sich Schüler oder Studenten überfordert fühlen. "Man kann das Spicken leicht unterbinden, wenn man seine Schüler fragt: Was braucht ihr, um diese Klausur zu schaffen?", sagt Rösch. Zur Not könnten die Schüler beispielsweise während der Prüfung ein Lexikon oder eine Formelsammlung zu Hilfe nehmen - die Situation würde mit einem "Gentlemen's Agreement" entspannt werden.

So weit die Theorie. An der Uni fährt Hochschullehrer Rösch aber andere Geschütze auf. Vor der Prüfung lässt er Mappen und Bücher in den ersten Reihen akribisch durchsuchen. "Die hinteren Bänke sind dann so erschrocken, dass sie ihre Spickzettel vor lauter Angst von allein verschwinden lassen."

© SZ vom 20.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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