Seehofer ist Ministerpräsident:Helden und Heilige

Das große weiß-blaue Welttheater und seine Darsteller: Horst Seehofer ist der zehnte bayerische Ministerpräsident - und hat einiges von seinen Vorgängern mitbekommen.

Heribert Prantl

Wenn man sich einen Seehofer backen will, geht das so: Man nehme drei Teile der Leutseligkeit von Alfons Goppel, zwei Teile des Machtbewusstseins von Franz Josef Strauß, dazu eine Prise des Autismus von Edmund Stoiber. Einen richtigen Seehofer hat man dann immer noch nicht. Die Ingredienzien aus dem Fundus der Charaktere der neun Vorgänger des neuen Ministerpräsidenten reichen nicht ganz aus.

Seehofer ist Ministerpräsident: Horst Seehofer freut sich: Er ist bayerischer Ministerpräsident.

Horst Seehofer freut sich: Er ist bayerischer Ministerpräsident.

(Foto: Foto: dpa)

Man muss sich im Ensemble des bayerischen Welttheaters etwas genauer umsehen. Man braucht zum Beispiel noch ein Stück der Schlitzohrigkeit eines Hermann Höcherl, der einst Bundesinnenminister war und das Grundgesetz nicht ständig unter dem Arm tragen wollte. Und dann muss man, um all das richtig zu verarbeiten, wissen, wo dieser Horst Seehofer herkommt: aus Ingolstadt.

Dieses Ingolstadt liegt am nördlichen Rand Oberbayerns - und hat irgendwie etwas Zwiegespaltenes. Dort war in alten Zeiten das Zentrum der katholischen Gegenreformation, dort lehrte Professor Johannes Eck, einer der heftigsten Widersacher Martin Luthers. Einerseits. Andererseits war Ingolstadt im 18. Jahrhundert der Sitz der freidenkerischen Illuminaten, dort hat Graf Montgelas seine Ideen von der Modernisierung Bayerns ausgebrütet.

In Ingolstadt waren die Reaktion und die Aufklärung zu Hause. Und Ingolstadt ist die Stadt, in der Herzog Wilhelm IV 1516 das Reinheitsgebot für die Herstellung des Bieres erlassen hat. Ingolstadt, 14 Kilometer vom geographischen Mittelpunkt Bayerns entfernt, ist also kein schlechter Geburtsort für einen bayerischen Ministerpräsidenten.

Aus ganz kleinen Verhältnissen

1949 wurde Seehofer dort als Sohn eines Lastwagenfahrers und Bauarbeiters geboren. Er ist zwar nicht der erste Ministerpräsident, der aus ganz kleinen Verhältnissen kommt. Auch dem bisher einzigen SPD-Ministerpräsidenten, Wilhelm Hoegner (1945 bis 1946 und 1954 bis 1957), war der große Aufstieg nicht in die Wiege gelegt - er war das siebte von dreizehn Kindern einer Eisenbahnerfamilie. Aber Seehofer ist der erste Ministerpräsident aus der CSU mit proletarischer Herkunft, und auch der erste Regierungschef in Bayern, der nicht an einer Universität studiert hat. Das prägt.

Der erste Ministerpräsident nach dem Krieg, Fritz Schäffer (CSU) war Jurist und aus begüterten Verhältnissen. Der zweite, Wilhelm Hoegner (SPD), war gelernter Richter und Staatsanwalt. Der dritte, Hans Ehard, war Sohn eines Stadtkämmerers und - natürlich - Jurist. Der nächste, Hanns Seidel, war Volkswirt und Rechtsanwalt. Es folgte Alfons Goppel, gleichfalls Rechtsanwalt von Beruf.

Dann kam Franz Josef Strauß, Historiker und Altphilologe. Ihm folgte Max Streibl, Sohn einer Oberammergauer Hoteliersfamilie, Jurist und Regierungsrat. Dann Edmund Stoiber, natürlich Jurist. Schließlich Günter Beckstein - Doktor der Jurisprudenz, was sonst.

Fähig zum Leiden

Seehofer ist "nur" Verwaltungswirt. Er war, im Leben vor der Politik, nicht ein höherer, sondern nur gehobener Beamter. Aber er ist mit mindestens so vielen Wassern gewaschen wie alle seine Vorgänger. Er hat zwar nicht Recht, aber die Politik von A bis Z studiert, seitdem er 1980 erstmals als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Ingolstadt in den Bundestag einzog und sich dort als sozialpolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe zu profilieren begann.

Seehofers Initiation in den engeren Zirkel der Macht begann 1986, als CSU-Chef Theo Waigel ihn als seinen Schriftführer bei den Koalitionsverhandlungen mit CDU und FDP mitbrachte: In dieser Rolle muss einer nichts sagen, kriegt aber alles mit. Seehofer hat, wie sich zeigt, viel mitgekriegt. Offensichtlich auch, dass man viel aushalten, ja leidensfähig sein muss, wenn man ganz nach oben will.

Seehofer hat einiges ausgehalten: Eine lebensgefährliche Herzerkrankung, als er alle Warnzeichen des Körpers missachtet hatte; eine existenzgefährdende Häme, als seine kindgesegnete Beziehung mit einer Bundestags-Mitarbeiterin bekannt geworden war; politisch ausgehalten hat er auch seine monatelange Unentschlossenheit darüber, ob er bei seiner alten Familie bleiben oder zur neuen gehen sollte. Solche Zauderei gibt es bisweilen auch in der Politik Seehofers; auch das verbindet ihn mit dem großen Franz Josef Strauß.

Helden und Heilige

Von Hans Ehard, dem dritten bayerischen Ministerpräsidenten, der katholisch war, aber eine evangelische erste Frau hatte, wird in CSU-Kreisen erzählt, dass er sich in der Nacht vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten vom Münchner Kardinal noch schnell katholisch habe trauen lassen - auf dass es kein Gerede gebe. Auf dass es kein Gerede gebe: das ist der Stoff, aus dem das bayerische Welttheater besteht.

Das Ensemble dieses weiß-blauen Welttheaters ist von stattlicher Größe. Dutzende von Charakterdarstellern aus der Politik der vergangenen sechzig Jahre gehören dazu: schmeichlerische und bissige, intrigante und meineidige, leutselige, biegsame und polternde; die orgiastische Hinterfotzigkeit, die man der bayerischen Politik nicht zu Unrecht nachsagt, ist in allen Spielarten vertreten.

Schon die Reihe der Nachkriegs-Ministerpräsidenten lässt kaum Besetzungswünsche offen. Fritz Schäffer, der erste Regierungschef nach dem Krieg, war ein kleines, zähes, unpopuläres Männlein aus dem Wahlkreis Passau; als Adenauers Finanzminister baute er aber dann in den frühen Fünfzigerjahren den "Juliusturm", einen Geldhort von damals sehr respektablen acht Milliarden Mark, der ihm dauerhaften Nachruhm sichert. Auf manchen Bildern ähnelt Schäffer dem Mahatma Gandhi.

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Helden und Heilige

Es folgt Wilhelm Hoegner, in den mehr als sechzig Jahren Nachkriegsgeschichte der einzige Sozialdemokrat, der Bayern regierte: ein Gefühlssozialist, einer, der nicht nur die Bayerische Verfassung, sondern auch einen Roman und viele Gedichte geschrieben hat. Sein Motto war "Bayern zuerst", und in seiner Bajuwarizität ließ Wilhelm Hoegner sich von keinem Konservativen übertreffen.

Dann Hans Ehard, der Mann mit den traurigen Augen, ein katholischer Franke und Kommentator des Bürgerlichen Gesetzbuches, dessen spektakulärste Eigenschaft war, dass ihm spektakuläre Eigenschaften völlig fehlten. Schließlich Hanns Seidel, der auf den Bildern ausschaut wie ein Butler und dessen Namen heute die Stiftung der CSU trägt.

Alfons Goppel ist der Ministerpräsident, der am längsten regiert hat, noch länger als Stoiber, nämlich 16 Jahre, von 1962 bis 1978. Die Zeitungen porträtieren ihn als "gemütlichen bayerischen Kachelofen" - aber im Lauf seiner vielen Regierungsjahre war Goppel viel mehr geworden: Er war ein demokratischer Kurfürst, der den Königstraum des Bayernlandes ganz wunderbar in die weiß-blauen Demokratie transportieren konnte - eine Rolle, die später Max Streibl als Nachfolger von Strauß sehr glücklos spielte. Goppel und Strauß ergänzten sich gut: Goppel war Hausvater in München, Strauß Weltenlenker in Bonn.

Gescheitert an der mentalen Zurückhaltung

Schließlich Franz Josef Strauß als Ministerpräsident, der Gottvater des weiß-blauen Himmels. Er war der Mann, der Wirtschaftspolitik nach dem Motto "Der Fortschritt spricht Bairisch" gemacht hat, der sich, als viriler Weltpolitiker, in der Enge des Plenarsaals im Maximilianeum höchst unwohl fühlte. Er war ein bayerischer Pate, ein politischer Krösus, einer, über den man sich bis heute so viele Geschichten erzählt wie sonst nur über Ludwig, den Märchenkönig. Der Historiker Wolfgang Benz sagte über den Mann, der sich, wie später Stoiber, vergeblich um die Kanzlerschaft bemühte, er sei gescheitert an der "mentalen Zurückhaltung gegen die alpine Urgewalt" in den außerbayerischen Landen.

Der Strauß-Schüler Stoiber war, anders als sein Lehrer, kein großer Gestalter, er war ein großer Verwalter. Er war nicht genial, aber bienenfleißig, ein Meister in der Kunst der rasenden Akribie. Er war kein Mann der Phantasie, aber er hat dafür gesorgt, dass am Starnberger See ein "Museum der Phantasie" entstand. Er hat die von Strauß betriebene Umwandlung eines Agrarlandes in einen High-Tech-Staat gefestigt. Sein Laster war seine Maßlosigkeit. Das war eine ganz andere Maßlosigkeit als die von Strauß: Stoiber wollte zeigen, dass er sich in Reformfleiß von niemandem übertreffen lässt. Das hat ihn der Wirklichkeit entrückt.

Und nach all den Katholiken kam vor einem Jahr der reelle Protestant Günther Beckstein, Lehrerssohn aus Nürnberg. Bei dessen Inthronisation kommentierte der Nürnberger Oberbürgermeister: Das sei nach 200 Jahren, endlich "die Vollendung der Integration Frankens in das Königreich Bayern". Diese Vollendung war, wie sich zeigte, nur ein Momentum, ein kurzer historischer Klick: Die einjährige Amtszeit des Franken geht als diejenige in der Geschichte der CSU ein, in der die Partei auf Prozent-Zahlen zurückstürzte, wie sie diese zuletzt in den fünfziger Jahren hatte, bevor also die Bayernpartei mit allen legalen und illegalen Mitteln niedergerungen war.

Evangelischer Christenmensch

Beckstein, der als bayerischer Innenminister bundesweit einen Ruf als Scharfmacher pflegte, der aber in Wahrheit ein skrupulöser, ein an sich und seiner Politik zweifelnder evangelischer Christenmensch ist - dieser Beckstein war und ist gewiss nicht der Hauptschuldige am CSU-Desaster: Aber die Geschichte fragt nicht immer nach Schuld. Es bleibt die Erinnerung an einen possierlich linkischen alten Herrn, der kein gewaltiger Redner und Selbstdarsteller war, aber eine ehrliche Haut.

Seehofer nun hat alles, was Beckstein fehlte: Figur, Ausstrahlung, die Gabe der Rede. Er hat es so schwer und zugleich so leicht, wie kein CSU-Gewaltiger vor ihm: So leicht, weil die Partei wirklich keinen anderen mehr aufbieten kann als ihn; er muss keinen Konkurrenten fürchten. So schwer, weil die Reform der CSU eine Aufgabe ist, die nicht viel einfacher ist als die fünfte Probe des Herkules.

Horst Seehofer ist ein jugendlicher 59-Jähriger, ein stattlicher Mann mit einem glatten, lächelnden Gesicht, in dem das Schicksal merkwürdigerweise keine Spuren hinterlassen hat. Neben ihm schauen seine Vorgänger noch älter aus, als sie es zu ihrer Amtszeit waren. Was also ist das Geheimnis des Horst Seehofer? Bei Dorian Gray war es so, dass ein Porträt von ihm an seiner statt alterte: während Gray immer maßloser wurde, blieb sein Äußeres jung und schön; nur in das gemalte Bild gruben sich die Spuren dieses Lebens. Vielleicht besteht Seehofers Geheimnis darin, dass er lernt, politische Maßlosigkeiten zu meiden.

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