Rosenheim:Hilfe für die Seele

Rosenheim: Extremkletterer Alexander Huber ist das Gesicht der Kampagne. Dass er sich selbst schon Hilfe geholt hat, nennt er "die beste Entscheidung meines Lebens".

Extremkletterer Alexander Huber ist das Gesicht der Kampagne. Dass er sich selbst schon Hilfe geholt hat, nennt er "die beste Entscheidung meines Lebens".

(Foto: Toni Heigl)

Ein neuer Krisendienst will Menschen in psychischen Ausnahmesituationen unterstützen - schnell, persönlich und fachkundig

Von Matthias Köpf, Rosenheim

In der Integrierten Leitstelle geht ein Anruf ein, jemand verhält sich sonderbar, ist außer sich oder hat sich seit Tagen im Zimmer eingesperrt. Der Disponent schickt den Rettungswagen und den Notarzt los, die fordern Hilfe von der Polizei an und womöglich noch die Feuerwehr, um die Tür aufzubrechen. Viel Blaulicht, viele Uniformen, viel Aufsehen bei den Nachbarn. Am Ende solcher Einsätze steht oft eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie, denn die Retter sind für anderes besser ausgebildet als für psychische Krisen. Und schuld will und darf von ihnen auch keiner sein, wenn der Patient später doch sich selbst oder einem anderen etwas antut. Oberbayern führt nun als erster bayerischer Bezirk einen flächendecken "Krisendienst Psychiatrie" ein, der Betroffenen in akuten Situationen andere Hilfsangebote macht. Ähnliches, aber in kleinerem Umfang, gibt es bisher nur in Mittelfranken.

Dass ein solcher Krisendienst notwendig ist, davon zeigt sich Oberbayerns Bezirkstagspräsident Josef Mederer überzeugt. Denn in Bayern kommt es jedes Jahr zu Zehntausenden solcher oder ähnlicher Einsätze der Rettungsdienste, mehr als in jedem anderen Bundesland. Dabei könnte vielen Menschen in seelischen Ausnahmesituationen auf andere Weise oft besser geholfen werden, glauben auch Patienten- und Angehörigeninitiativen sowie die Wohlfahrtsverbände, die meist die Träger der bestehenden Beratungsdienste sind. Sie stellen auch einen großen Teil des Personals für die Zweierteams, die in dringenden Fällen innerhalb einer Stunde bei jedem Patienten sein sollen, der in einer akuten psychischen Krise Hilfe braucht. Koordiniert werden diese Teams aus speziell ausgebildeten Fachkräften wie Psychologen, Sozialpädagogen oder Fachkrankenpflegern von einer Leitstelle in München.

Diese Leitstelle existiert in und für die Landeshauptstadt schon seit 2007. Unter der Telefonnummer 0180 / 655 30 00 erreichen Anrufer hier jeden Tag von 9 bis 24 Uhr fachkundige Ansprechpartner, die im besten Fall allein schon durch dieses erste Telefonat viel Druck aus der Situation nehmen können. Denn die meisten Anrufe kommen von den Betroffenen selbst und nur zum geringeren Teil von Familienmitgliedern, Freunden oder Kollegen. Bei Bedarf vermittlen die Ansprechpartner am Telefon schnell und verbindlich Termine bei Therapeuten oder Ambulanzen. Reicht das vermutlich nicht, schickt die Leitstelle eines der Krisenteams los. Sie können die Patienten oft überzeugen, dass eine stationäre Aufnahme in einer Psychiatrie besser wäre. Die belastenden und stigmatisierenden Zwangseinweisungen sollen die Ausnahme werden. Es gehe bei all dem aber nicht nur um psychische Krankheiten, sondern ganz generell um seelische Krisen, betont der Chefarzt der Inn-Salzach-Klinik in Wasserburg, Peter Zwanzger. Diese können auch durch Erlebnisse wie den Tod im Umfeld ausgelöst werden. Je schneller geholfen werde, desto geringer sei die Wahrscheinlichkeit, dass sich daraus eine chronische Störung entwickele. "Schon das Wissen um die Existenz dieses Angebots beruhigt, deeskaliert und strahlt Sicherheit aus", sagt der Psychiater Michael Welschehold als Chef der Münchner Leitstelle.

Die Leitstelle ist seit Dezember für den Großraum München zuständig, auch im Umland gibt es seither mobile Teams. Von Februar an wird das System im Südosten Oberbayerns zur Verfügung stehen, von April an ist eine Ausdehnung auf den Südwesten und von Oktober an auf den Norden um Ingolstadt geplant. Allerdings hat sich der Zeitplan mehrmals verschoben, denn die Träger haben Mühe, genug Personal zu finden. Am Ende soll es 88 neue Stellen in der Leitstelle und bei den regionalen Diensten geben, 600 Mitarbeiter sollen für Einsätze zur Verfügung stehen.

Der Bezirk, der auch für die psychiatrischen Krankenhäuser zuständig ist, werde für den Krisendienst pro Jahr 7,4 Millionen Euro ausgeben, fühle sich dabei aber alleingelassen, sagt Bezirkstagspräsident Mederer. "Die Krankenkassen machen sich da einen schlanken Fuß." Einen Beitrag erwartet sich Mederer auch vom Freistaat. Auf Initiative der Bezirke und Verbände lässt Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) derzeit ein "Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz" entwerfen, ein Kabinettsbeschluss nach dem Amoklauf im Münchner Olympia-Einkaufszentrum hat dem neuen Nachdruck verliehen. Das Gesetz soll auch einen Krisendienst vorsehen und wird wohl frühestens 2019 in Kraft treten. Als Beitrag des Freistaats für ganz Bayern ist derzeit von vier Millionen Euro die Rede.

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