Regensburg:Marias Kampf um ein normales Leben

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12:28 Uhr: Hilfe beim Auskleiden. 13:45 Uhr: Hilfe beim Toilettengang. Maria Pirzer ist Tetraspastikerin und will promovieren. Doch mit den bisher genehmigten Pflegestunden wird das nicht gehen. Um mehr bewilligt zu bekommen, muss die 33-Jährige ihre Tagesabläufe minutiös auflisten - in einem Minutenprotokoll.

Wolfgang Wittl

Maria Pirzer hat bereits zu viel mitgemacht in ihrem Leben, als dass sie sich über eine Geschichte wie diese noch ernsthaft aufregen könnte. Alles, was sie zu diesem Thema bewegt, sagt sie mit einer gewissen Gelassenheit, ja fast Freundlichkeit. Es gehe ihr nicht darum, ein System als solches in Frage zu stellen, sondern die Art der Mittel anzuzweifeln.

Maria Pirzer Studentin aus Regensburg im Rollstuhl Pflegestufe 3 (Foto: oh)

Maria Pirzer hat keinen Groll in der Stimme, sie argumentiert weder laut noch anmaßend, ab und zu lacht sie sogar. Dabei empfindet sie das, was ihr und vielen anderen behinderten Menschen widerfährt, nicht weniger als "entwürdigend". Auch deshalb ist sie der Meinung, dass sich etwas ändern müsste.

Maria Pirzer, 33, ist eine sogenannte Tetraspastikerin, das heißt, sie kann ihre Arme und Beine gar nicht oder allenfalls teilweise benutzen. Durch Sauerstoffmangel bei der Geburt wurde ihr Gehirn derart geschädigt, dass sie über ihren Körper nicht bestimmen kann.

Seit sie denken kann, ist die junge Frau aus der Nähe von Amberg auf einen Rollstuhl angewiesen. Überdies leidet sie an mehreren chronischen Erkrankungen der inneren Organe, die ihr starke Schmerzen zufügen. Sie weiß, dass ihre Beschwerden nicht gelindert, geschweige denn je geheilt werden können. Deshalb wird Maria Pirzer immer auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen sein.

Derzeit hat Pirzer 310 Stunden im Monat bewilligt bekommen, in denen sie gepflegt und betreut wird, das sind zehn Stunden und 20 Minuten am Tag. Was viel klingt, reicht bei weitem nicht aus, vielleicht auch deshalb, weil sie am Leben teilnimmt wie viele andere junge Frauen auch.

Pirzer war an der Schule, hat studiert. Und obwohl sie lediglich ihren linken Arm eingeschränkt bewegen kann, hat sie selbst mitstenographiert an der Universität. Im März hat sie in Regensburg ihr Studium der Geschichte, Anglistik, Philosophie und internationalen Handlungskompetenz abgeschlossen, nun möchte sie promovieren.

Mit ihren genehmigten Pflegestunden wird sie aber auch dann nicht hinkommen, fürchtet Pirzer. Im März lag sie wieder einmal fast 40 Stunden über dem Budget. Wäre ihr betreuender Pflegedienst Phönix e.V. nicht so kulant und würde Zusatzleistungen übernehmen, wie sie sagt, würde Pirzer schlimmstenfalls selbst auf den Kosten sitzen bleiben. Daher hat sie Ende vergangenen Jahres eine Aufstockung auf täglich 13 Stunden beantragt. Doch so ohne weiteres funktioniert das nicht.

Erst Mitte März - fast drei Monate später - hat Maria Pirzer vom Bezirk Oberpfalz, dem zuständigen Kostenträger, Antwort erhalten. Sie wurde aufgefordert, die zusätzlichen Stunden durch die Schilderung eines "sehr genauen Tagesablaufs" zu unterfüttern.

Von Phönix-Mitarbeitern wurde Pirzer rasch belehrt, dass die von ihr gewählte Form viel zu ungenau sei. Der auf die Beratung behinderter Menschen spezialisierte Verein erklärte ihr, dass damit nichts anderes gemeint sei als ein Minutenprotokoll. Und so fertigte Pirzer sieben solcher Tagesabläufe an - bis in die letzte Kleinigkeit und wie von Amts wegen gewünscht für eine gesamte Woche. Zum Beispiel heißt es:

11.10 Uhr: Begleitung zum Einkaufen (Supermarkt und Drogerie)

11.15 Uhr: Begleitung während des Einkaufs (Einladen der Waren in den Einkaufswagen, Bezahlen an der Kasse, Verstauen der Waren in der Einkaufstasche)

12.12 Uhr: Begleiten nach Hause

12.28 Uhr: Hilfe beim Auskleiden (Jack und Schuhe) und beim Anziehen von Wollsocken

12.40 Uhr: Verstauen der Einkäufe durch die Assistentin

12.43 Uhr: Zubereitung einer warmen Mahlzeit mit mundgerechtem Herrichten durch die Assistentin

13.14 Uhr: Mittagessen mit Hilfe beim Trinken

13.45 Uhr: Hilfe beim Toilettengang inklusive An- und Auskleiden und Transfer vom Rollstuhl auf die Toilette und zurück

Sie halte eine individuelle Ermittlung des Hilfebedarfs durchaus für sinnvoll, erklärt Maria Pirzer, denn die Betreuung koste "ja wirklich eine Menge Geld". Die Vorgehensweise sei allerdings erniedrigend und zu hinterfragen. Auch Ute Strittmatter vom "Netzwerk von und für Frauen mit Behinderung" denkt so, sie sagt: "Man wird zum gläsernen Behinderten gemacht." Mit einem selbstbestimmten und gleichberechtigten Leben habe das nichts mehr zu tun, "Nichtbehinderte müssen auch nicht darlegen, wo sie hingehen". Früher sei die Art der Hilfe bemessen worden und nicht die Dauer. Außerdem, kritisieren Sozialverbände, sei das Anforderungsprofil für die Pflege oft an alten Menschen ausgerichtet und gehe an der Lebenswirklichkeit vorbei.

Maria Pirzer kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. Einmal im Jahr erhält die 33-jährige Akademikerin etwa Besuch vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, einem weiteren Kostenträger, bei dem sie unter anderem beantworten muss, ob sie sich gerade als Männlein oder Weiblein fühle. Der Fragenkatalog werde halt stur abgearbeitet - Demenz-Test eingeschlossen. "Und das wird dann als Zufriedenheitsstudie verkauft", sagt Pirzer amüsiert, "man regt sich schon gar nicht mehr auf."

Tatsächlich geht es bei solchen Befragungen darum, jedes noch so kleine Detail von den Pflegebedürftigen zu erfahren, kritisieren Sozialexperten. Kostenträger würden versuchen, Zuständigkeiten hin- und herzuschieben in der Hoffnung, Rechnungen auf den jeweils anderen abzuwälzen. Zudem würden Anträge verzögert bearbeitet, um Kosten zu senken. "Bedarf ist nicht ersichtlich", laute zunächst eine beliebte Standardantwort.

Der Bezirk Oberpfalz wehrt sich gegen solche Behauptungen. Jeder Einzelfall werde vom sozialpädagogischen Dienst persönlich in Augenschein genommen, sagt eine Sprecherin. "Wir tun unser Bestes." Der Kostendruck sei in keiner Weise ausschlaggebend, Anträgen von Behinderten werde in der Regel entsprochen - so schnell es eben geht. Wenn Frau Pirzer den Tagesablauf derart präzise geschildert habe, dann sei dies auf Empfehlung des Vereins Phönix geschehen, nicht aber auf Verlangen des Bezirks.

Der wünscht von den Antragstellern wörtlich "eine Aufstellung zum Tagesablauf für eine Woche, aus der die täglichen Tätigkeiten der Assistenzkräfte (inklusive Zeitangaben) hervorgehen". De facto bedeute dies freilich nichts anderes als ein Minutenprotokoll, sagt Michael Springs, Pflegedienstleiter bei Phönix. Die Erfahrung in früheren Fällen habe gezeigt, dass Anträge dann schneller bearbeitet würden oder nicht mehr nachgebessert werden müssten. Denn meist würde die Hilfe ja sofort benötigt.

Maria Pirzer wartet inzwischen fast ein halbes Jahr auf die Bewilligung ihres höheren Stundenkontingents, wohl auch durch eine Verkettung unglücklicher Umstände, wie beide Seiten sagen. Im April war sie wegen Krankheit nicht erreichbar, und als sie ihre Protokolle abgeschickt hatte, waren die in der Sozialverwaltung plötzlich nicht auffindbar. Ob sie auf dem Postweg oder im Amt verloren gegangen sind, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Am Freitag hat Maria Pirzer, die der höchsten Pflegestufe angehört, die Unterlagen erneut abgeschickt. Vom Bezirk erhielt sie im Gegenzug die Zusicherung, gerade Fälle wie ihrer würden schnell und wohlwollend behandelt.

© SZ vom 04.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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