Prozess um Vergewaltigung:"Welche Veranlassung hatten Sie, ihn als Schatz zu bezeichnen?"

Fragen über Fragen: Mehr als ein Dutzend Mal muss eine junge Frau, die von ihrem ehemaligen Freund mehrmals vergewaltigt worden sein soll, vor Gericht aussagen - zuletzt sogar in einer Klinik, wegen der psychischen Belastung. Ihre Anwältin und die Verteidiger sind sich einig: So einen Prozess haben sie noch nie erlebt.

Wolfgang Wittl

Seit bald zwei Jahren befasst sich das Regensburger Landgericht mit der Frage, ob ein junger Mann seine damalige Freundin mehrmals vergewaltigt und körperlich misshandelt hat - eine ungewöhnlich lange Zeitdauer für einen solchen Prozess.

Noch ungewöhnlicher allerdings ist die Tatsache, dass die junge Frau, die als Nebenklägerin auftritt, mehr als ein Dutzend Mal als Zeugin aufgerufen worden ist. Wieder und wieder wurde sie mit der Vergangenheit konfrontiert, bis sie sich in ärztliche Behandlung begeben hat. Die Frage nach dem Opferschutz beherrscht die Verhandlung inzwischen ebenso sehr wie die eigentlichen Tatvorwürfe.

Verteidigung: Sie wollen den Angeklagten also nicht mehr sehen, richtig?

Zeugin: Ja.

Verteidigung: Seit wann ist das so?

Zeugin (unter Tränen): Ich weiß es nicht, ich kann das nicht sagen.

Verteidigung: Am 27. Juni 2007 schrieben Sie dem Angeklagten in einer E-Mail, dass Ihnen sein Foto gut gefalle.

Zeugin: Ich kann dazu nichts sagen.

Gericht: Dann ist die Frage beantwortet.

Verteidigung: Nicht so schnell, ich muss mich nicht mit jeder Antwort abfinden. Wie kam es dazu, dass Sie sich jetzt von dem Angeklagten abwenden?

Gericht: Möchten Sie dazu etwas sagen?

Zeugin schluchzt.

Verteidigung: Bitte antworten Sie.

Gericht: Sie hat gesagt, sie weiß es nicht.

Verteidigung: Ich hab nichts gehört.

Gericht: Das hat sie aber gesagt.

Ein Mittwoch im Spätsommer, der Prozess nähert sich dem 60. Verhandlungstag. Alles ist wie immer, bis auf eine Ausnahme: Der Prozess findet nicht im Landgericht statt, sondern etwa 15 Kilometer östlich im Krankenhaus Donaustauf, einer Fachklinik für Pneumologie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Hier, in unmittelbarer Nähe zur Walhalla, hat man einen sagenhaften Blick auf das Donautal.

Doch in Raum 472 sieht man nur Stühle und Tische, angeordnet wie in einem Gerichtssaal. Polizisten fahren Kisten herein, ein Computer wird installiert. Das Gericht hat die Verlegung in das Krankenhaus angeordnet, damit die Zeugin rasch betreut werden kann, wenn ihr die Befragung zu viel wird. Ein Kuriosum.

Die Verteidiger des Angeklagten kritisieren, die Zeugin sei nur ambulante Patientin. Ihr Einspruch gegen den Verhandlungsort wird jedoch abgewiesen, das Gericht bewertet die Fürsorgepflicht gegenüber dem mutmaßlichen Opfer höher. Die Zeugin soll zwei Mal versucht haben, sich das Leben nehmen.

"Haben Sie ihn noch geliebt?"

Verteidigung: Welche Veranlassung hatten Sie, ihn als Schatz zu bezeichnen?

Anwältin der Zeugin: Das wurde damals schon beantwortet.

Verteidigung: Wann?

Zeugin: Das hab ich schon beantwortet.

Verteidigung: Wann haben Sie den Kontakt zu dem Angeklagten abgebrochen?

Anwältin der Zeugin: Das ist doch alles bekannt. Ich sehe nicht ein, warum das drei, vier Mal beantwortet werden muss!

Verteidigung: Ich halte die Frage aufrecht.

Zeugin (wimmernd): Ich hab's damals schon gesagt.

Verteidigung: Was haben Sie gesagt?

Gericht: Sie hat geantwortet.

Verteidigung: Haben Sie ihn noch geliebt?

Gericht: Das ist alles schon gesagt.

Verteidigung: Ich bitte um eine Erklärung, wann das beantwortet wurde.

Die Zeugin stürmt aus dem Raum. Ihrer Mandantin sei übel, sagt die Anwältin.

Helmut Mörtl und Hubertus Werner, die Anwälte des Angeklagten, sitzen in einer Sitzungspause vor der Fachklinik. Mörtl ist seit 17 Jahren Strafverteidiger, Werner seit 23 Jahren, beide sind gut im Geschäft, doch etwas wie hier hätten sie noch nie erlebt.

Damit das klar ist, sagt Werner: Sie seien keine wildgewordenen Verteidiger, denen es gefalle, auf einer Frau herumzutrampeln. "Ich bin für größtmögliche Rücksicht." Doch auch die stoße irgendwann an ihre Grenzen. Die Zeugin verstricke sich in Widersprüchen, bleibe Antworten schuldig, verlasse ohne Erlaubnis den Gerichtssaal. Und das Gericht lasse sie gewähren. Hätte sich die Zeugin nicht fortlaufend der Befragung entzogen - "wir hätten das schon längst beenden können", sagt Mörtl.

Opferschutz verstehe er als hohes Gut. Doch in strittigen Fällen wie diesem entwickle sich der Opferschutz schnell zur "legalisierten Vorverurteilung", zur "Aushöhlung der Unschuldsvermutung". Der Angeklagte gerate zum Nebendarsteller, habe schon mehrere Jobs verloren, weil er zu Gerichtsterminen erscheinen musste - welche die Zeugin dann oft platzen ließ.

Dabei habe ein anerkannter Gutachter festgestellt, dass die Frau vernehmungsfähig sei. Nach Ansicht der Verteidiger fehlt der Zeugin jegliche Glaubwürdigkeit. Sogar ihre Selbsttötungsabsichten - "suizidale Gesten", wie Werner es nennt - seien nichts anderes als Inszenierung.

Verteidigung: Sie sagten, es ging ums Geld.

Zeugin: Das habe ich damals schon alles erklärt.

Verteidigung: Weiß das noch jemand? Ich weiß es jedenfalls nicht.

Gericht: Wollen Sie dazu etwas sagen?

Zeugin: Ich hab' nett mit ihm geschrieben, damit ich Geld von ihm kriege.

Verteidigung: Sie haben sich auch lustig über ihn gemacht (zitiert aus E-Mail).

Anwältin der Zeugin: Die E-Mails haben wir nun wirklich ausführlich besprochen.

Verteidigung: Warum haben Sie nur Geld für eine zerrissene Jacke verlangt, aber nicht für die Schläge und die Vergewaltigung? Das ist doch viel schlimmer.

Zeugin (bricht in Tränen aus): Was fällt Ihnen überhaupt ein? Eine Unverschämtheit! Geht es noch? (Stürmt aus dem Saal)

Gericht: Fünf Minuten Unterbrechung.

Nicht alles, was eine Verteidigung nicht versteht, sei zwangsläufig durch einen Widerspruch oder eine Inszenierung begründet, sagt Claudia Schenk, die Anwältin der Zeugin. Wenn ihre Mandantin weint oder keine Antwort weiß, ergreift Schenk wie selbstverständlich das Wort.

Sie ist getrieben von der Frage: Wie viel ist einer Zeugin zumutbar, ohne dass sie zur gläsernen Zeugin wird? In diesem Fall sei jedes Maß überschritten, sagt Schenk. Oder sei es nötig, Details aus der Kindheit aufzudecken, um die Glaubwürdigkeit eines mutmaßlichen Opfers zu prüfen?

Müsse eine psychisch belastete Person sich eine so intensive Befragung gefallen lassen? Handelt es sich denn nicht um einen Suizidversuch, wenn jemand nur ansatzweise zur Tat schreitet? Sei es nicht denkbar, dass eine Frau aus einem Abhängigkeitsverhältnis heraus Mails an ihren mutmaßlichen Vergewaltiger schreibt? Müsse man nach fünf Jahren wirklich über seine damaligen Gefühle Auskunft geben können? Sei es nicht besser, dass die Mandantin hinausrennt, anstatt sich im Saal zu übergeben? Soll eine Zeugin, wie vom Gutachter empfohlen, ein Psychopharmakum einnehmen, nur damit sie nicht hysterisch reagiert?

Doch es gibt auch etwas, was Claudia Schenk mit der Verteidigung verbindet: "Mein Wunsch wäre gewesen, das Gericht hätte mehr Schranken gesetzt und stringenter durchverhandelt." Und: So einen Prozess habe auch sie nicht erlebt in ihrer 26-jährigen Tätigkeit.

Gericht: Die Zeugin ist wieder da, bitte stellen Sie Ihre Fragen.

Verteidigung: Meine Frage steht im Raum.

Gericht: Welche?

Verteidigung: Die ich zuletzt gestellt habe.

Gericht: Die wurde beantwortet. Die Zeugin sagte, dass sie Ihre Frage für eine Unverschämtheit hält.

Verteidigung: Das ist doch keine Antwort, das ist nicht Ihr Ernst?

Gericht: Doch.

Verteidigung: Dann will ich sofort einen unaufschiebbaren Antrag stellen, ich werde Sie ablehnen. (Steht auf und geht)

Gericht: Bitte nehmen Sie ins Protokoll auf, dass Rechtsanwalt Mörtl unaufgefordert den Saal verlässt.

Rechtsanwalt Werner: Dann nehmen Sie bitte auch auf, dass die Verteidigung durch meine Anwesenheit gesichert ist. Ich wiederhole die Frage, bitte antworten Sie.

Anwältin der Zeugin: Meine Mandantin hat die Frage nicht verstanden.

Verteidigung: Warum sie Geld für die Jacke, nicht aber für die Schläge und Vergewaltigung verlangt hat?

Zeugin: Was soll ich sagen?

Verteidigung: Bitte einfach antworten.

Zeugin: Kann ich nicht.

Gericht: Wenn sie sagt, sie kann nicht antworten, dann kann sie nicht antworten.

Ein Gericht, dass von beiden Seiten Befangenheitsanträge kassiert, hat viel richtig oder viel falsch gemacht. Wolfgang Dippold, der Vorsitzende Richter, denkt oft darüber nach, wie der Prozess hätte besser laufen können. Vier Mal hatte die Zeugin ausgesagt, alles im üblichen Rahmen, alles schien vorbei zu sein.

Doch dann tauchten Differenzen in ihren Aussagen aus, an denen die Frau womöglich schuldlos sei. Dennoch sei dem Gericht nichts anderes übrig geblieben, als die Zeugin seit einem Dreivierteljahr wieder zu laden und wieder und wieder. Insgesamt 13 oder 14 Mal, neun Mal musste sie aussagen.

Sehr belastend sei der Prozess unter dem Aspekt des Opferschutzes, räumt Dippold ein, auch für die Richterbank: "Aber wir waren prozessual gebunden. Das Mädel musste kommen, so leid es uns tat." Die Möglichkeit, die Vernehmung mit Verweis auf einen entsprechenden Spruch des Bundesgerichtshofs früher zu beenden, scheute das Gericht wegen des Risikos einer Revision.

Gericht: Weitere Fragen?

Verteidigung: Ich bitte die Zeugin sich anzustrengen, die Frage zu beantworten.

Gericht: Weitere Fragen?

Verteidigung: Fragen werden nicht durch Beschluss beantwortet. Dann weisen Sie die Frage als unzulässig zurück.

Gericht: Die Frage wird zurückgewiesen.

Verteidigung: Haben Sie den Angeklagten hinsichtlich ihrer Gefühle zu ihm belogen?

Anwältin der Zeugin: Das wurde doch alles bereits beantwortet.

Verteidigung: Nein, wurde es nicht, also?

Zeugin: Ich kann nichts sagen, das ist so lange her.

Verteidigung: Hatten Sie vor, sich mit dem Angeklagten zu treffen?

Zeugin: Ich habe Ihnen alles erklärt, wie das damals war. Was soll ich sagen?

Gericht: Bitte wiederholen Sie Ihre Frage, Herr Verteidiger.

Verteidigung: Nein, das mache ich nicht mehr. Ich bin kein Kasperl. Irgendwo geht es auch um meine Würde als Verteidiger.

Die Verhandlung wird unterbrochen, die Zeugin hat Kopfschmerzen. Mittagspause.

Ein paar Stunden später kann die junge Frau ihr Glück kaum fassen. Die Zeugin sei endgültig entlassen, erklärt der Vorsitzende Richter, die Verhandlung wird fortgesetzt. Am 18. September soll die Gutachterin aussagen, die die Glaubwürdigkeit der Zeugin beurteilen soll. Die Verhandlungstermine reichen bis in den November.

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