Prozess um Tötung von Ehefrau:Minuten, die ein ganzes Leben auslöschen

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Manchmal kippt ein Leben in einem einzigen Augenblick - und ein Gericht muss versuchen, damit gerecht umzugehen. Wie im Fall von Sergio I., einem Familienvater, der seine Frau mit 79 Messerstichen tötete, als sie ihn verlassen wollte.

Ralf Wiegand

Irgendwann an diesem vermutlich vorletzten Verhandlungstag platzt dem Vorsitzenden Richter der Kragen. Wütend springt Christoph Wiesner auf, donnert den Stuhl gegen den Tisch, Blut steigt ihm in den Kopf. "Na gut", raunzt er, "dann unterbrechen wir eben noch einmal für eine halbe Stunde", und stürmt aus dem Saal.

Acht Monate dauert der Prozess gegen Sergio I. nun schon, über 30 Verhandlungstage vor der 8. Strafkammer des Landgerichts Augsburg sind es geworden. Und dann, kurz vor dem Plädoyer: noch ein Antrag der Verteidigung. Fünf Sitzungstage hatte das Gericht ursprünglich vorgesehen für den Fall von Sergio I., der seine Frau erstochen hat. Nicht einmal die Verteidigung bestreitet das.

Ein klarer Fall ist es trotzdem nicht. Die Staatsanwaltschaft sieht in Sergio I., 47, einen heimtückischen Mörder, der eine besondere Schwere der Schuld auf sich geladen habe. Das würde bedeuten, dass die Haftstrafe nach 15 Jahren nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könnte. Die Verteidigung hält Sergio I. hingegen für einen armen Tropf, der die Nerven verloren und im Affekt die Frau getötet hat, die ihn demütigte. Totschlag im Rahmen eines Familiendramas.

22 Jahre verheiratet, drei Kinder

Niemand weiß, was wirklich geschah an jenem 13. März 2011 im schwäbischen Aichach. Dort, in einer Siedlung gesichtsloser Mietshäuser, lebten Sergio und Fabrizia I., 44, in einer Dreizimmerwohnung im zweiten Obergeschoss. 22 Jahre waren sie verheiratet, drei Kinder haben sie, die älteste Tochter hat schon eine eigene Bleibe. Sergio I. ist ein einfacher Mann, ein schlichtes Gemüt, so sieht das seine Familie, so bestätigen das später auch Gutachter.

Manchmal aufbrausend, "ein Neapolitaner eben", sagt sein Bruder. Aber fleißig ist er: Als ungelernter Arbeiter schuftet er in drei Schichten. Fabrizia, seine Frau, arbeitet nicht. Während Sergio als Sohn italienischer Gastarbeiter in Deutschland geboren ist, stammt seine Frau aus Italien und ist mit einem Teil ihrer Seele wohl auch dort geblieben. Deutsch lernt sie all die Jahre eher mäßig. Aber sie macht sich hübsch von dem Geld, das Sergio nach Hause bringt, sie putzt die Kinder heraus. Der Mann ist stolz auf seine Frau.

Aber sie am Ende nicht mehr auf ihn: In der Ehe kriselt es, angeblich gibt es Streit, weil Fabrizia gerne ausgeht, ohne ihn. Schon länger schläft er im Wohnzimmer. Im Februar 2011, lernt sie über Facebook einen anderen Mann kennen. Eineinhalb Wochen vor ihrem Tod verlässt sie die Wohnung, angeblich, weil Sergio sie geschlagen hat, wofür es keine Zeugen gibt. Sergio I. hat keine Vorstrafen, nicht einmal Punkte in Flensburg. Sie zieht zu ihrem Freund nach München.

Am 13. März, einem Sonntag, will Fabrizia I. die Kinder zu ihrem Mann bringen, weil sie mit dem neuen Freund in den Urlaub fahren möchte. Der Liebhaber fährt sie hin, die beiden treffen um 16.45 Uhr in Aichach ein, weil sie annimmt, dass Sergio zu diesem Zeitpunkt schon zur Arbeit aufgebrochen ist. Doch als sie auf dem Hof vorfahren, kommt Sergio herunter. Er bittet seine Frau, nach oben zu kommen, um zu bereden, wie es mit den Kindern weitergehen soll. Sie weigert sich. Sergio geht mit den Kindern in die Wohnung.

Zeitstrahl mit Notrufen, Telefondaten, Zeugenaussagen

Es ist eine ganz normale Trennungsgeschichte bis hierhin. Doch dann, in den folgenden Minuten, eskaliert das Leben der Familie. Bruno, der Bruder von Sergio, hat einen Zeitstrahl erstellt, der mindestens eineinhalb Meter lang ist. Nur für diese Minuten. Er hat alles zusammengepuzzelt, Notrufe, Telefondaten, Zeugenaussagen. Er managt die Verteidigung seines Bruders, hat Anwälte besorgt, Gutachten bezahlt und jeden Verhandlungstag verfolgt. "Die reduzieren das Leben meines Bruders auf diese paar Minuten", sagt er, "als ob es ihn davor nicht gegeben hätte."

Die Minuten beginnen mit dem Ende einer Telefonverbindung zwischen dem Handy der Tochter und dem des Opfers, um 16.54 Uhr und 10 Sekunden. Was gesprochen wurde, ist unklar. Sie enden um 16:59 und 59 Sekunden mit dem letzten von etlichen Notrufen: "Er hat sie schon umgebracht." 79 mit Messern beigebrachte Wunden zählt die Gerichtsmedizin später.

Sergio I. scheint es seit diesen Minuten, in denen er seine Frau erstochen hat, tatsächlich nicht mehr zu geben. Auf dem Stuhl des Angeklagten kauert ein Häufchen Elend. Mitten im Verhandlungstag werden Tabletten aus der JVA angefordert. Das Plädoyer der Staatsanwaltschaft, die ihm Mord aus Heimtücke und niedrigen Beweggründen vorwirft, weil er seine Frau keinem anderen gegönnt habe, rauscht an ihm vorbei. Er zittert, bis die Tabletten eintreffen, dann wird er apathisch.

Dieser Sergio I. soll den Mord geplant haben, soll seine Frau unter einem Vorwand in die Wohnung gelockt und ein Messer bereitgelegt haben und sie bewusst vor den Augen seiner Kinder, die er einer Zeugenaussage nach sehr liebt, erstochen haben. "Mit 79 Messerstichen" sagt der Staatsanwalt scharf. Es sei keine Affekttat gewesen, es habe keinen Streit gegeben. Die Tochter hatte das zwar ausgesagt, dass sich die Eltern gestritten hätten, bevor "Chaos" ausgebrochen sei, aber das glaubt der Ankläger nicht.

Er nennt das "erfunden und erlogen", eine Falschaussage, die Konsequenzen haben werde. Er behandelt das Mädchen, 14 zur Tatzeit, im Plädoyer fast wie eine Komplizin. Das Gutachten der Verteidigung, das eine Affekttat zu belegen versucht und von einem renommierten Experten stammt, nimmt er nicht ernst; der Gutachter habe "unkritisch die Schilderungen des Angeklagten übernommen" und sogar mit dessen Angehörigen gesprochen, was der Staatsanwalt "noch nie erlebt" habe.

Es ist Feindseligkeit zu spüren im Gericht. Der Staatsanwalt würde, wäre es "sein" Gutachter, diesen dafür loben, sogar in der Verwandtschaft nach der Lebensgeschichte von Opfer und Täter zu recherchieren. Er weiß auch, dass die "79 Messerstiche" zum Teil Kratzer sind. Jeder ist vermessen worden. Die Eskalation der Gewalt, der Rausch, "die abartig besessene Intensität der Tat", wie der Gutachter schrieb, die Anwesenheit der Kinder bei der Tat: Belegen sie Brutalität und Rohheit des Täters, wie der Staatsanwalt glaubt? Oder ist das nicht typisch für eine Affekttat, wie die Verteidigung behauptet?

Mord oder Totschlag?

Ebenso gut weiß die Verteidigung, dass sie mit immer neuen Anträgen den Prozess in die Länge gezogen und an den Nerven des Gerichts gezerrt hat. "Wir mussten alles für unseren Mandanten tun", sagt Felix Dimpfl, einer der Anwälte. Die Verteidigung baut weiter darauf, dass es vor der Tat noch einen Streit gegeben habe oder gegeben haben kann. Der Zeitstrahl soll das belegen.

Außer der Tochter wollte zunächst auch eine Nachbarin einen Streit gehört haben, dann wieder nicht. Darum hat der Prozess auch so lange gedauert: Weil sich die Zeugen in der Wichtigkeit ihrer Aussagen gefielen. Weil sie immer wussten, wie es gerade steht, vor Gericht. Weil jeder eine Meinung hat, ob Sergio I. das mit Absicht gemacht hat oder nicht. So wichtig waren sie manchmal, dass sie das Gericht spontan mit dem Taxi bringen ließ, für fast 60 Euro, einfache Fahrt. Manche meldeten sich als Zeugen, nur um andere Zeugen schlecht zu machen.

Mord oder Totschlag, das macht für Sergio I. den Unterschied, ob er mit maximal 15 Jahren oder mit dem Rest seines Lebens für diese Minuten im März bezahlt. Der Prozess wird an diesem Freitag fortgesetzt, womöglich mit dem Urteil.

© SZ vom 10.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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