Prozess:Protokoll eines Absturzes

Lesezeit: 3 min

Die Urteilsverkündung verfolgt Harry S. regungslos. Der ehemals erfolgreiche Kinderarzt aus Augsburg hat gestanden. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Für den Missbrauch an 21 Buben muss der Kinderarzt Harry S. für dreizehneinhalb Jahre ins Gefängnis und anschließend in Sicherungsverwahrung. Der Richter spart nicht mit persönlicher Kritik am Verhalten des 41-Jährigen

Von Stefan Mayr, Augsburg

Der letzte Prozesstag erspart dem angeklagten Kinderarzt Harry S. nichts: Zunächst verkündet Richter Lenart Hoesch sein scharfes Urteil, das der möglichen Höchststrafe sehr nahe kommt. Dann lässt er persönliche Kritik am Verhalten des 41-jährigen Mediziners folgen. Er spricht von "Lebenslügen" und "Beschönigungsversuchen", an denen der Angeklagte "bis in die Hauptverhandlung" festgehalten habe. Im ersten Moment klingen diese Worte wie eine scharfe Abrechnung mit einem Serienkinderschänder, der die Dimension seiner Taten immer noch nicht einsehen will. Dass der Jugendrichter dem Delinquenten mit seiner Kritik aber auch einen gut gemeinten Rat mit auf den Weg geben will, wird erst später deutlich.

Harry S., ehemals erfolgreicher Kinderarzt aus Augsburg, hat gestanden, im Laufe vieler Jahre 21 Buben im Alter von vier bis neun Jahren sexuell missbraucht zu haben. Nach 17 langwierigen Verhandlungstagen verurteilt ihn am Donnerstag die Jugendkammer des Landgerichts Augsburg zu dreizehneinhalb Jahren Haft. Zusätzlich wird ihm die anschließende Sicherungsverwahrung und ein lebenslanges Berufsverbot als Arzt aufgebrummt.

Harry S. folgt der Urteilsbegründung nahezu regungslos mit eingezogenen Schultern und auf dem Tisch verschränkten Händen. Er sitzt stets ein bisschen schief da, sodass sein Gesicht den Menschen im vollbesetzten Zuhörerbereich abgewandt ist.

Die Urteilsbegründung dauert eine gute Stunde. Der Richter rekonstruiert jede einzelne Tat noch einmal detailliert. Dabei erspart er den Zuhörern, dem Angeklagten und auch den Opfern auf der Bank der Nebenkläger die Einzelheiten nicht. Es ist das schonungslose Protokoll eines Absturzes. Hoesch legt dar, wie Harry S. in seiner Freizeit immer mehr Kinderpornos konsumierte. Wie er seine kleinen Opfer auf der Straße ansprach und ihre Hilfsbereitschaft ausnutzte, um sie in Keller oder Tiefgaragen zu locken. Wie er extra Ausflüge im Namen des ahnungslosen Roten Kreuzes veranstaltete, um sich an den Kindern zu vergehen. Wie er das Vertrauen seiner Lebensgefährtinnen und deren Söhne missbrauchte, um sich zu befriedigen. Wie er manche Opfer sogar mit Notfallmedikamenten betäubte, um sich ungestört an ihnen zu vergehen.

Viele dieser Taten wären nach der langen Zeit wohl unaufgeklärt geblieben, hätte Harry S. sie nicht mit seinem Handy fotografiert oder gefilmt und dann fein säuberlich mit Datum, Tatort und Opfernamen auf seinem Computer abgespeichert.

"Der Angeklagte ist in behüteten Verhältnissen aufgewachsen", berichtet der Richter, "er war beruflich erfolgreich, allseits hoch angesehen und geschätzt, äußerst engagiert und beliebt." Aber um seine sexuellen Neigungen zu vertuschen, habe sich dieser Mann "daran gewöhnt, sich mit Lügen durchs Leben zu schlagen".

Zwei Gutachter hatten bei S. eine sogenannte Kernpädophilie diagnostiziert. Das heißt, er fühlt sich ausschließlich von kleinen Jungen sexuell angezogen. Diese Neigung gilt als unheilbar. Nach einer Therapie könnte der Mann seinen Trieb aber so weit kontrollieren, dass er kein Kind mehr missbraucht. Allerdings hat der Gerichtsgutachter die Rückfall-Wahrscheinlichkeit auf "deutlich über 50 Prozent" beziffert. Deshalb sei die Anordnung der Sicherungsverwahrung zwingend notwendig gewesen. Doch das heißt noch nicht, dass S. bis ans Lebensende weggesperrt wird. Vielmehr wird nach der Haftzeit einmal pro Jahr geprüft, ob S. immer noch gefährlich für die Allgemeinheit ist oder nicht. Sollte ein Gutachter dabei feststellen, dass die Therapie erfolgreich war, käme S. auf freien Fuß. Der Richter betont allerdings, S. müsse hierfür aufhören, seine Mitmenschen und sich selbst zu belügen. So habe er im Prozess stets beteuert, er sei den Buben zufällig begegnet. Aber Aufzeichnungen von Überwachungskameras zeigten, dass S. die Tatorte mitunter akribisch auskundschaftete, bevor er zuschlug.

Der Anwalt eines Opfers hatte dem Arzt im Prozess vorgeworfen, er habe bei den Kindern eine "Schneise der emotionalen Verwüstung" hinterlassen. Viele der missbrauchten Buben leiden bis heute unter den Geschehnissen und sind in psychotherapeutischer Behandlung. Manche haben Angst, alleine im Freien zu spielen, andere haben Schulprobleme oder sind Bettnässer. "Dass der Fall jetzt juristisch abgeschlossen ist, ist für die Opfer ein wichtiger Punkt", sagt Marion Zech, die Anwältin eines Nebenklägers. "Damit können die Opfer jetzt beginnen, das Geschehene auch für sich persönlich aufzuarbeiten."

Nach der Urteilsverkündung wird Harry S. abgeführt. Aus dem ehemals angesehenen Chefarzt ist jetzt ein JVA-Insasse geworden. Ob und wie er die Taten aufarbeitet? "Wenn es gelingt, die Beschönigungstendenzen zu überwinden, dann wird er die Aussetzung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung erreichen können", sagt Hoesch. Es ist der Versuch, dem Angeklagten - indirekt - ins Gewissen zu reden. Wenn Harry S. eine Chance auf ein Leben außerhalb der Mauern des Maßregelvollzugs haben will, muss er beginnen, sich seinen Problemen ernsthaft zu stellen.

© SZ vom 11.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: