Prozess in München:Patient fordert 500.000 Euro Schmerzensgeld

Im rechten Fuß spürt er nichts mehr, sein linker Unterschenkel und sein Penis wurden amputiert. Hätte der Urologe des 34-Jährigen das verhindern können? Darüber muss nun das Gericht entscheiden.

Von Dietrich Mittler

Sebastian S. hatte im Frühjahr 2009 allen Grund, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blinken. Er hatte Freunde, Spaß am Motorradfahren - und vor allem: Sebastian S. und seine Freundin, mit der er eine gemeinsame Tochter hat, wollten nun heiraten. Fünf Jahre später ist von diesem Glück nichts mehr da: Die Beziehung zu seiner Gefährtin ist in die Brüche gegangen, von den damals etwa 15 Freunden hält nur noch einer fest zu ihm, Motorradfahren ist passé - und der 34-Jährige muss froh sein, dass er überhaupt noch lebt.

Er ist auf einen Rollstuhl angewiesen, sein linker Unterschenkel ist amputiert, im rechten Fuß spürt er nichts mehr - und sein Selbstwertgefühl als Mann ist zerstört. Die Schuld daran gibt der ehemalige Lagerist einem Rosenheimer Urologen, der am 8. April 2009 die Symptome nicht richtig gedeutet habe.

Am Donnerstag holten die schrecklichen Erlebnisse Sebastian S. im Oberlandesgericht München wieder ein - ausgelöst durch die Bemerkung des Vorsitzenden Richters Thomas Steiner, natürlich müsse ein Gericht im Berufungsverfahren auch prüfen, "wie verlässlich die Zeugen sind, die Ihnen nahe stehen und keine Mediziner sind" - also die damaligen Freunde von Sebastian S., die im ersten Verfahren vor dem Landgericht Traunstein vernommen worden waren.

Sebastian S. bricht in Tränen aus

In diesem Augenblick bricht es aus dem 34-Jährigen heraus: Er habe seinen Freunden die Symptome am Penis gleich nach dem Arztbesuch gezeigt. "Ich haben denen kein Geld gegeben." Richter Steiner sagt, das behaupte ja auch keiner. Aber das kommt bei Sebastian S. nicht mehr an. Er bricht in Tränen aus. Die Verhandlung wird unterbrochen. Auf dem Gang spielen sich ergreifende Szenen ab.

"Die Aussagen meiner Freunde sind einfach nicht so viel wert wie die der Ärzte", presst der junge Mann im Rollstuhl hervor. Anwalt Stephan Rössler spricht beruhigend auf ihn ein: "Ich weiß, es ist schwer, aber Sie müssen jetzt Ruhe bewahren!"

In einem ersten Verfahren vor dem Landgericht Traunstein war die Klage von S. abgewiesen worden. Das Gericht - bestärkt durch ein urologisches Fachgutachten - hatte der Darstellung des Arztes Glauben geschenkt, S. habe keinen kranken oder gar schwerkranken Eindruck gemacht. Der hingegen sagt, in der Praxis des Urologen sei sein Penis "bereits über mehrere Stunden geschwollen, bläulich verfärbt und druckschmerzhaft gewesen".

Nach einer Nacht voller Schmerzen

Der Arzt hält dagegen, solche Symptome habe er bei seiner Untersuchung nicht erkennen können. Freunde von Stefan S., denen er sein Genital unmittelbar nach dem Arztbesuch gezeigt hatte, wollen sehr wohl Auffälligkeiten bemerkt haben. Nach einer Nacht voller Schmerzen ging S. zu einem anderen Urologen. Der überwies ihn umgehend ins Klinikum Rosenheim - wegen drohender Lebensgefahr. Dort hätten die Ärzte nach der Schilderung von Anwalt Rössler gesagt: "Um Gottes Willen, warum kommen Sie so spät zu uns?"

Welcher Albtraum dann Realität wurde, schildert eine Zusammenfassung des Gerichts, in der immer wieder der Begriff "Nekrose" fällt, ein Fachbegriff für das Absterben von Körperzellen: "Im Folgenden entwickelte sich beim Kläger unter anderem ein septischer Schock, eine Pneumonie des rechten Unterlappens, eine schwere Gerinnungsstörung, Nierenversagen, eine Penisnekrose mit Amputation, eine Nekrose des linken Unterschenkels mit Amputation des linken Unterschenkels, eine Weichteilnekrose am linken Stumpf" - sowie eine Entzündung am rechten Bein, durch die ebenfalls Gewebe zerstört wurde.

Sebastian S. lag einen Monat lang im Koma, hat 14 Operationen hinter sich. Er muss schwere Schmerzmittel nehmen, seine Niere arbeitet nur noch zu 25 Prozent. Als er nach der Pause in den Gerichtssaal zurückkehrt, entschuldigt er sich beim Vorsitzenden Richter für seinen Gefühlsausbruch. Der sagt ihm, dafür müsse er sich nicht entschuldigen. Bereits bei Beginn der Verhandlung hatte Richter Steiner durchblicken lassen, wie sehr ihn die "unglaubliche Leidensgeschichte" berührt.

Aber nun habe das Oberlandesgericht zu prüfen, ob die vorherige Instanz oder die Gutachterin Fehler gemacht habe. Am 24. Juli will das Gericht die Entscheidung verkünden, der Streitwert beträgt mehr als 767 000 Euro. "Ich möchte wieder zwei unversehrte Füße haben", sagt Sebastian S., als er das Gericht verlässt. Er weiß, dass er die nie zurückbekommen wird, allenfalls - auch nur mit Glück - das geforderte Schmerzensgeld von 500 000 Euro plus Zinsen.

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