Landgericht Traunstein:Sekunden, die über Leben und Tod entscheiden

A train passes a memorial in Bad Aibling near Rosenheim

Ein Denkmal erinnert nahe der Unfallstelle an die Opfer des Zugunglücks.

(Foto: REUTERS)
  • Am Landgericht Traunstein beginnt der Prozess gegen den Fahrdienstleiter, der während des Zugunglücks im Februar in Bad Aibling Dienst hatte.
  • Michael P. hat bereits gestanden, ein Online-Spiel auf dem Handy gespielt zu haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm weitere Fehler vor.
  • Zwei Züge waren auf der eingleisigen Strecke frontal zusammengestoßen. Zwölf Menschen starben, 89 wurden teils schwer verletzt.

Von Matthias Köpf, Bad Aibling

Das Stellwerk am Bahnhof von Bad Aibling ist ein nüchterner, zweigeschossiger Zweckbau direkt am Bahnsteig von Gleis 1. Die großen Fenster im Erdgeschoss sind bis über Kopfhöhe mit Spiegelfolie abgeklebt und nur von innen zu durchschauen. Darüber zeichnet sich zwischen den Lamellen der Jalousie eine einsame Grünpflanze ab. In dem Prozess, der an diesem Donnerstag am Landgericht Traunstein beginnt, wird das Stellwerk eine Rolle als Tatort spielen.

Hier am Leitstand hat Fahrdienstleiter Michael P. am Morgen des 9. Februar die beiden Regionalzüge auf die eingleisige Strecke geschickt, die dann zweieinhalb Kilometer östlich des Bad Aiblinger Bahnhofs in einer Kurve auf freier Strecke frontal ineinandergefahren sind. Bei dem Unfall, einem der schwersten Zugunglücke in der deutschen Nachkriegsgeschichte, starben zwölf Menschen, 89 wurden zum Teil schwer verletzt. In dem Prozess wird es um die Schuld des Fahrdienstleiters und um die Verantwortung der Bahn gehen. Und es geht um Sekunden.

Denn der damals 39 Jahre alte P. hat an diesem Morgen im Stellwerk an seinem Handy das Online-Spiel "Dungeon Hunter 5" gespielt. So hat er es den Ermittlern nach dem Unglück gestanden, und so wird er es nach Ankündigung seiner Verteidiger auch im Gerichtssaal gestehen. Seine Aktionen in dem Fantasy-Spiel sind ohnehin elektronisch protokolliert, genau wie seine Handlungen als Fahrdienstleiter in der realen Welt.

Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft hat P. das Spiel erst wenige Sekunden vor 6.46 aktiv beendet; genau eine Minute und eine Sekunde vor dem verheerenden Zusammenstoß der beiden Züge soll das Spiel von seinem Handy-Display verschwunden sein. Davor ist seine letzte nachweisbare Aktion in dem Spiel für wenige Sekunden vor 6.41 Uhr verzeichnet.

Ehe er das Spiel beendet hat, hatte P. nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft schon mehrere Fehler begangen. Demnach war er in der Zeile verrutscht, als er den fahrplanmäßigen Bahnhof für die Begegnung der beiden Züge nachschlug. Danach hatte er zweimal hintereinander dem Zug Richtung Kolbermoor manuell freie Fahrt gegeben, obwohl er zuvor schon den Gegenzug auf die eingleisige Strecke geschickt und daher die Automatik das grüne Licht verweigert hatte.

Den nächsten Fehler machte P. laut den Ermittlungen dann, als er das Spiel schon beendet hatte: Er drückte im Stellwerk den falschen Knopf und schickte den Notruf mit der Kollisionswarnung nicht an die Lokführer, sondern nur an Kollegen vom Streckenpersonal. Als er auch diesen Fehler erkannte und noch eine Warnung an die Lokführer schickte, waren diese bereits tot.

Trägt die Deutsche Bahn eine Mitverantwortung?

Der Rosenheimer Oberstaatsanwalt Jürgen Branz, der die Anklage wegen fahrlässiger Tötung in zwölf und fahrlässiger Körperverletzung in 89 Fällen verfasst hat, sieht das menschliche Versagen des Fahrdienstleiters P. darin begründet, dass er durch das klar vorschriftswidrige Handy-Spielen abgelenkt war. Die Verteidigung wird danach fragen, ob die Protokolle der Spiel-Aktionen und der Entscheidungen im Stellwerk wirklich sekundengenau zu synchronisieren sind.

Außerdem wird sie hinterfragen, ob das Spielen eindeutig die Ursache der Fehler war oder ob diese nicht auch so hätten passieren können. Daneben geht es den Verteidigern in ihrem Bemühen um ein möglichst geringes Strafmaß und eine mögliche Mitverantwortung der Deutschen Bahn. Weil diese den Zugverkehr auf der Nebenstrecke von München nach Rosenheim dezentral in kleineren lokalen Stellwerken wie dem in Bad Aibling regeln lässt und dabei eine Sicherheitstechnik einsetzt, welche die bedrohliche Situation zwar richtig erkannt hat, sich vom Fahrdienstleiter aber ohne zweite Hürde überstimmen und außer Kraft setzen ließ.

Dass diese installierte Technik womöglich nicht richtig funktioniert haben könnte, haben die Ermittler zuvor ebenso ausgeschlossen wie ein eventuelles Funkloch für den Bahnfunk entlang der Strecke.

Die Strategie der Verteidiger, einen Teil der Verantwortung im System der Deutschen Bahn anzusiedeln, deckt sich mit dem Ziel mancher Nebenklage-Vertreter, die sich für ihre Mandanten vom DB-Konzern und dessen Tochter DB Netz AG mehr Schmerzensgeld und Schadenersatz erwarten als vom angeklagten Fahrdienstleiter.

Insgesamt wollen fast 30 Nebenkläger an dem Prozess teilnehmen. Vertreten werden sie von fast zehn Anwälten. In dem Verfahren, für das der Vorsitzende Richter Erich Fuchs zunächst sieben Verhandlungstage angesetzt hat, sollen die Opfer zumindest fürs Erste keine größere Rolle spielen. Am ersten Tag sollen der Angeklagte sowie zwei Ermittler der Polizei aussagen, danach folgen Zeugen von der Bahn und dem rumänischen Unternehmen, welches das Handy-Spiel entwickelt hat.

Im Wochenrhythmus sollen dann ein Sachverständiger für Funktechnik, ein Rechtsmediziner und ein weiterer technischer Sachverständiger sowie ein IT-Experte und ein Neuropsychologe aussagen. Das Urteil ist für den 5. Dezember vorgesehen, die Höchststrafe beträgt fünf Jahre Haft.

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