Polizei:Eingesperrte Frau aus Rosenheim schrie offenbar und trat gegen die Wand

Zwischenfall bei Zwangsräumung in Rosenheim

Die Nachbarn der Familie in Rosenheim wussten von der Existenz der Tochter. Sie hörten sie gegen die Wand treten. Aber zum Amt ist niemand gegangen.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)
  • Im Fall der eingesperrten Frau aus Rosenheim berichten Nachbarn von Schreien und Tritten gegen die Wand.
  • Die Polizei versucht nun herauszufinden, wie lange die 26 Jahre alte Frau unter menschenunwürdigen Umständen leben musste.
  • Noch ist unklar, ob überhaupt eine Straftat vorliegt.

Von Matthias Köpf, Rosenheim

Im Fall der 26 Jahre alten geistig behinderten Frau, die in einer verwahrlosten Wohnung in Rosenheim entdeckt worden ist, konzentrieren sich die Ermittlungen der Polizei darauf, wie lange sie unter diesen menschenunwürdigen Umständen leben musste. "Nach dem bisherigen Kenntnisstand ist es noch nicht sicher, ob zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für strafbare Handlungen vorliegen", sagte Oberstaatsanwalt Jürgen Branz am Mittwoch.

Auch im Sozial- und im Jugendamt der Stadt geht man der Frage nach, seit wann dieser Zustand anhielt und warum die Behörden nichts davon mitbekommen haben. Ans Licht gekommen war der Fall, als die Mutter der 26-Jährigen sich am Dienstag angesichts der bevorstehenden Zwangsräumung ihrer Wohnung das Treppenhaus hinunterstürzte. Sie liegt schwer verletzt im Krankenhaus, ist aber mittlerweile außer Lebensgefahr.

Die direkte Nachbarin will die Tochter zuletzt im Sommer vor zwei Jahren außerhalb der kleinen Wohnung unter dem Dach gesehen haben, zusammen mit der Mutter im Hof in der Sonne sitzend. Im Jahr 2014 sei die Mutter vom Amtsgericht auch zum bisher letzten Mal als rechtliche Betreuerin der Tochter bestätigt worden, heißt es in Rosenheim. Ein ärztliches Gutachten sei damals unauffällig gewesen, beide seien persönlich vor Gericht erschienen.

Sozialbehörden hatten keinerlei Hinweise auf Missstände

Zur Schule in einem Heilpädagogischen Zentrum ging die junge Frau da schon mehrere Jahre nicht mehr, sie war dem Schulalter längst entwachsen. Von der Schulpflicht wäre sie auch früher schon behördlich befreit gewesen, sagt Rosenheims Sozialdezernent Michael Keneder.

Im Jugend- und im Sozialamt der Stadt gibt es nach seinen Angaben jedoch keinerlei Unterlagen zu der Familie. Auch Hartz IV oder ähnliche Leistungen hat die Mutter demnach nie bezogen, wohl aber zwischenzeitlich Leistungen vom Arbeitsamt. Vor allem gibt es laut Keneder bei den Sozialbehörden keinerlei Hinweise von außen auf eventuelle Missstände.

Nachbarn, denen die Existenz der junge Frau immer bekannt war, haben sie nach eigenen Angaben öfter schreien gehört, doch das passt auch aus Sicht des Sozialdezernenten zur Behinderung der junge Frau, einer schweren Form von Autismus. Die direkte Nachbarin hatte am Dienstag auch von Tritten gegen die Wand gesprochen und davon, dass sie schon geahnt habe, dass da etwas nicht in Ordnung sei. Ihre nachbarschaftlichen Hilfsangebote habe die Mutter aber stets abgelehnt, auf Klingeln zuletzt nicht mehr reagiert.

Mutter und Tochter konnten noch nicht vernommen werden

So erging es nach Angaben der Stadt auch der Diakonie-Mitarbeiterin von der örtlichen Obdachlosen-Fachstelle, die in Rosenheim bei Zwangsräumungsverfahren routinemäßig hinzugezogen wird. Die Frau habe auf keine der wiederholten Kontaktversuche reagiert und auch bei zwei Besuchen die Türe nicht geöffnet, sagt Sozialdezernent Keneder. Am Dienstagvormittag hätte die Familie, zu der auch ein Sohn im Jugendalter gehört, die Wohnung dann endgültig verlassen müssen. Der Gerichtsvollzieher und der Hausmeister standen schon vor der Haustür, als sich die Frau drinnen vom zweiten Stock bis in den Keller hinunterstürzte.

Die Mutter konnte bisher noch nicht vernommen werden. Dies gilt auch für die Tochter, die in eine psychiatrische Klinik gebracht wurde. Ob sie viel zur Aufklärung beitragen kann und ob ihr die eigene Lage überhaupt bewusst war, ist nach Behördenangaben ohnehin fraglich. Körperlich fehlt ihr trotz der entwürdigenden Lebensumstände mindestens der vergangenen Monate demnach nichts.

Der Sohn, der sich mit seiner Mutter das größere der beiden vermüllten Zimmer teilen musste, aber in der Schule nie als auch nur ansatzweise verwahrlost aufgefallen sein soll, ist bei seinem Vater. Der Vater der jungen Frau soll schon vor längerer Zeit verstorben sein. Ihrer Mutter, so lautet die einhellige erste Zwischenbilanz der Behörden, sei die Lage wohl einfach "irgendwann über den Kopf gewachsen".

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