Politische Reaktion:"Eine Abschiebung aus dem Klassenzimmer darf es nicht geben"

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Die Landtagsgrünen postierten sich am Donnerstag vor dem Münchner Innenministerium. Was ihnen missfällt, war eindeutig erkennbar. (Foto: oh)
  • Bayerische Polizisten haben in Nürnberg einen 20-jährigen Afghanen aus der Schule geholt, um ihn abzuschieben. Eine spontane Demonstration wurde aufgelöst.
  • Der junge Afghane kommt vorerst nicht in Abschiebehaft, Grüne und SPD in Bayern äußerten aber trotzdem scharfe Kritik an dem Vorgehen.
  • Auch in der CSU rumort es, da der Nürnberger Fall der Diskussion über Abschiebungen eine neue Richtung geben könnte.

Von Anna Günther und Wolfgang Wittl

Am Tag danach ist der Minister, der den umstrittenen Einsatz politisch zu verantworten hat, selbst in Nürnberg zu Besuch. Joachim Herrmann spricht bei der Hauptversammlung des Deutschen Städtetags. Normalerweise ist der bayerische Innenminister um keine Antwort verlegen, selbst nach den Anschlägen von Ansbach und Würzburg gab Herrmann zügig Auskunft. Doch jetzt blockt er alle Fragen ab.

Warum haben bayerische Polizisten einen 20-jährigen Berufsschüler aus der Schule geholt, um ihn nach Afghanistan abzuschieben? Einen jungen Mann mit guten Chancen auf einen Ausbildungsplatz, und das kurz nach einem Bombenanschlag in Kabul mit fast 100 Toten? Weshalb gingen die Polizisten so rabiat gegen Mitschüler vor, die sich mit ihrem Klassenkameraden solidarisierten? Aus dem Innenministerium heißt es zunächst nur, man müsse sich einen Überblick verschaffen. Ein Haus im kommunikativen Krisenmodus. Erst am späten Donnerstagnachmittag kommt eine Pressemitteilung, die aggressiven "linksautonomen Chaoten" die Schuld an der Eskalation zuschreibt.

Nürnberg
:20-jähriger Afghane muss nicht in Haft

Das entschied ein Gericht in Nürnberg. Polizisten holten den Schüler zunächst aus dem Unterricht, eine Demonstration lösten sie mit Pfefferspray auf. Nun rechtfertigen sich die Beamten auf Facebook.

Trotzdem bleibt die Debatte heikel für die Staatsregierung. Sogar in der CSU wird Kritik laut, auch von innenpolitischen Hardlinern wie Stephan Mayer: "Aus einer Berufsschule jemanden zur Abschiebung zu verbringen, ist mit Sicherheit alles andere als sensibel, das sollte so nicht passieren", sagt der innenpolitische Sprecher der Union im Bundestag. Ministerpräsident Horst Seehofer hatte bereits erklärt, man müsse sich jeden einzelnen Fall wohl noch gründlicher anschauen. Man ahnt in der CSU: Die Tumulte von Nürnberg haben das Potenzial, dem Streit über Abschiebungen eine völlig neue Richtung zu geben.

Auch die Opposition spürt dies. Abgeordnete der Grünen protestieren am Donnerstagmittag mit Trillerpfeifen vor dem Innenministerium. "Schämt euch", steht auf einem Plakat, das die Gesichter von Herrmann und Kultusminister Ludwig Spaenle zeigt. Fraktionschefin Katharina Schulze richtet ihre Kritik direkt an den Innenminister: Herrmann trage mit der Anweisung, Flüchtlinge aus Klassenzimmern zu holen, die Verantwortung für die Eskalation in Nürnberg. "Das Maß ist voll", sagt Natascha Kohnen, die neue Chefin der Bayern-SPD: Schüler müssten sich in ihrer Schule sicher fühlen können. Kohnen wirft der Staatsregierung vor, Integration zu blockieren. Die "unmenschliche Abschiebepraxis nach Afghanistan" müsse beendet werden.

Ähnlich äußert sich Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD): "Eine Abschiebung aus dem Klassenzimmer darf es nicht geben", fordert er, das sei "schlichtweg unmenschlich". Bereits im Februar habe er an den Ministerpräsidenten appelliert, die Staatsregierung möge ihren restriktiven Kurs überdenken und Asylbewerbern einen leichteren Zugang zu Ausbildung und Arbeit ermöglichen. Die unklare und unsichere rechtliche Situation in Bayern müsse ein Ende haben. Ja, Integration sei ein teils schwieriger und langer Prozess. Als "umso verstörender" empfindet es Reiter, dass der Freistaat am Mittwoch "scheinbar jedes Augenmaß verloren hat".

Und die CSU? Sie hat im Kabinett erst vorige Woche Arbeitserleichterungen für Asylbewerber beschlossen, vorausgegangen waren interne Debatten. Landtagspräsidentin Barbara Stamm hatte sich wie Seehofer dafür eingesetzt, andere dagegen fürchten einen sogenannten Pull-Effekt - einen weiteren Zuzug von Flüchtlingen.

Der Fall Nürnberg wird im Landtag ein Nachspiel haben, die SPD forderte bereits Auskunft vom Innenminister. Die Grünen wollten schon am Donnerstag im Bildungsausschuss grundsätzlich über ein Verbot von Abschiebungen aus Schulen sprechen. Die CSU-Mehrheit lehnte den Antrag ab. Begründung: Er sei nicht rechtzeitig zwei Tage vor der Sitzung eingegangen.

© SZ vom 02.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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