Polit-Psychologie:"Politiker zu sein, frisst an der Seele"

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Der Hamburger Psychologe Thomas Kliche über Wahlkampfstress, das Leben als öffentliche Person und Trauerarbeit nach Niederlagen.

Christine Burtscheidt

Wochenlang verteilten sie Flugblätter, hielten Reden, nahmen an Kundgebungen teil - viele Politiker kamen auf kaum mehr als drei Stunden Schlaf die Nacht. Am Sonntag entscheidet sich, wen der Wähler mit seiner Stimme für diese Strapazen belohnt. Über die psychischen Belastungen des Wahlkampfs berichtet der Hamburger Psychologe Thomas Kliche.

"Wenn ein Plan schief geht, ist das immer ein Grund zur Trauer. Schiebt man sie weg, zerfrisst sie einen", weiß Kliche. Das Beste für Beckstein: Trauer über die Niederlage zulassen. (Foto: Foto: dpa)

SZ: Woher nehmen ein Günther Beckstein (CSU) oder ein Franz Maget (SPD) die Kraft zu kämpfen, obgleich Umfragen signalisieren, dass sie am Sonntag eine Niederlage einstecken müssen und womöglich ihren Job verlieren?

Thomas Kliche: Zu einem guten Teil aus ihrem Idealismus. Die meisten gehen ja nicht in die Politik, um dickes Geld zu machen, sondern weil sie etwas verändern wollen. Die Motivation trägt viele bis in die späten Jahre hinein. Jeder muss dabei auch mal in aussichtslosen Situationen Stehvermögen zeigen. Und Niederlagen führen nicht zwangsläufig zu einem politischen Ende. Für Hillary Clinton, die jetzt bei den US-Vorwahlen Barack Obama unterlag, war das nicht unbedingt der letzte Wahlkampf. Für andere wie die ehemalige Ministerpräsidentin in Schleswig-Holstein, Heide Simonis, bedeutete jedoch der Verrat aus den eigenen Reihen das Aus. Entscheidend ist, wie absehbar die Niederlage ist und wie emotional gravierend sie von der Partei erlebt wird. Wird jemand weggemordet wie Simonis, kostet das alle viel Vertrauen.

SZ: Wenn es sein muss, entledigen sich Parteien immer schneller ihrer Spitze, wie man bei Kurt Beck sehen konnte.

Kliche: Wir erleben in den letzten Jahren einen schnelleren Verschleiß von politischem Personal. Das sieht man in der SPD besonders gut. Je mehr die Parteien ihre Stammwähler verlieren und je schwieriger es wird, Menschen für Wahlen zu mobilisieren, desto stärker geraten sie offenbar unter emotionalen Handlungsdruck. So werden Leute abserviert, die gerade mal nicht attraktiv sind, nur aus purer Verunsicherung. Die Betroffenen durchleiden dann eine Zeit, in der sie sehr verwundbar sind. Für die Parteien aber ist es langfristig katastrophal, weil sich ihr Personalkarussell immer schneller dreht, gute Leute aber nicht beliebig nachrücken. Und es ist für die Politik insgesamt schlimm, weil Entwürfe über lange Jahre konsequent weiterverfolgt werden müssen, damit sie überhaupt eine Chance haben.

SZ: Den Stress nimmt also keiner freiwillig auf sich, sofern er nicht ausreichend geltungs- und machtsüchtig ist?

Kliche: Zu sagen, Politiker sind machtsüchtig und eitel, ist ein Vorurteil. Das Bild, das sich die Bevölkerung von ihnen häufig macht, ist ungerecht. Berufspolitiker sind in erster Linie enorm fleißig, schon weil sie irrsinnige Aktenmengen bewältigen müssen. Mit der Zeit wachsen sie jedoch vollkommen mit ihrem Beruf zusammen. Die Psychologie spricht hier auch vom langen Arm der Arbeit, der ins Privatleben hineinreicht: wenig Zeit für die Familie, dauernd reisen, immer neue Menschen überzeugen müssen, witzig und sachkundig sein, und Freunde, die sich vor allem durch bestimmte Zwecke finden. Ständig ist man eine öffentliche Person und stets auf der Hut. Um diese Mischung aus persönlicher Präsenz, Authentizität und Professionalität aufrecht zu erhalten, muss man seine Rolle verinnerlichen. Das macht es dann aber auch so schwierig, einfach wieder auszusteigen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Beckstein und Huber mit einer Niederlage umgehen sollten.

SZ: Zögern deshalb Politiker den Ausstieg oft zu lange hinaus? Man denke nur an Hillary Clinton, die bis zuletzt kämpfte, oder Kurt Beck, der trotz monatelang schlechter Umfragen sein Amt nicht niederlegen wollte.

Der Hamburger Psychologe Thomas Kliche (Foto: Foto: oh)

Kliche: Wer in so eine Position kommt, verschmilzt mit der Aufgabe. Das Leben ist aufregend, einflussreich und spannend. Da gibt keiner gern auf. Bei Beck war das Amt jedoch längst nicht mehr lustig. Dass er daran festhielt, ist wohl eher auf sein Pflichtbewusstsein zurückzuführen. Bei Clinton ist der Fall anders gelagert: Wer so viel politische Erfahrung hat, weiß auch, wie schnell sich Umfragen und Zeiten ändern können.

SZ: Gehen wir von einer Niederlage für CSU und SPD am Sonntag aus - wie sollen Beckstein oder Maget dann damit umgehen?

Kliche: Wenn die Hoffnung erlischt oder ein Plan schief geht, ist das immer ein Grund zur Trauer. Schiebt man sie weg, zerfrisst sie einen. Trauer über Niederlagen ist die richtige Reaktion. Vielleicht ist ein Maget ja auch erleichtert, wenn er in die zweite Reihe zurücktreten kann. Mir hat mal eine Ministerin, die das erlebte, gesagt, sie sei gottfroh, den Job los zu sein. Politiker zu sein, ist kein Zuckerschlecken. Das frisst an der Seele und fordert ungeheuere Gefühlsarbeit.

SZ: Was raten Sie Politikern - wie können sie möglichst unbeschadet durch den Wahltag kommen?

Kliche: Den Politikern kann ich nicht viel raten. Den Parteien sage ich: Nehmt die Leute, die ihr ins Rampenlicht schickt, als Menschen ernst und beschützt sie! Dafür sind auch Ehrlichkeit und Offenheit wichtig. Und den Medien sage ich: Versucht sachlich und respektvoll mit den Menschen umzugehen! Politiker müssen oft den Kopf für ganz viel Dinge wie etwa für Wirtschaftskrisen hinhalten, auf die sie nur begrenzt Einfluss haben können.

SZ: Gilt das auch für die Verluste der Bayerischen Landesbank? Darf man dafür Finanzminister Erwin Huber (CSU) gar nicht zur Verantwortung ziehen?

Kliche: Einerseits ist politische Verantwortung sinnvoll, andererseits sollte man im Einzelfall genauer prüfen, auf was Abgeordnete wirklich Einfluss nehmen können. Je mehr Politik personalisiert wird, desto weniger wird das jedoch gemacht. Politikerverdrossenheit dient nämlich vielen immer öfter als Psycho-Hygiene: Man kann den Politikern die Schuld geben, ohne selbst Verantwortung zu übernehmen und eigene Verhaltensweisen in Frage zu stellen.

SZ: Wie überlebt man psychisch am besten in der Politik?

Kliche: Zwei Ratschläge, die eigentlich jeder Führungskraft helfen können: Erstens sollte man sich persönlich integer verhalten, damit man bei allen Niederlagen nicht die Selbstachtung verliert. Das Zweite ist: Wir haben in unserer Gesellschaft einen Leitwert. Der heißt Erfolg um fast jeden Preis. Davon muss man sich befreien. Sonst wird man vom Beifall abhängig. Dann ist man in Niederlagen besonders übel dran.

SZ: Können Beckstein, Huber oder Maget loslassen und ohne Politik leben?

Kliche: Bei Maget steht das außer Zweifel. Für Beckstein oder Huber ist jedoch der Erfolg sehr wichtig. Sie standen jahrelang in der zweiten Reihe und kamen dann für den Generationenwechsel zu spät. Deshalb sind sie nun in der misslichen Situation, nicht unbedingt Sympathieträger zu sein und am Sonntag womöglich abgestraft zu werden.

© SZ vom 27.09.2008/pir - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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