Pendeln:Dieser Mann fährt täglich 140 Kilometer zur Arbeit

Pendler im Bayerischen Wald

3 Uhr am Sammelparkplatz in Waldkirchen: Johann Lenz ist von Haidmühle aus knapp 30 Kilometer mit dem Auto gefahren. Ab hier geht es weiter mit dem Bus.

(Foto: Theresa Krinninger)

Johann Lenz pendelt jeden Tag vom östlichen Ende Niederbayerns zum BMW-Werk nach Dingolfing und zurück. Zusammengerechnet saß er bereits eineinhalb Jahre im Bus.

Von Theresa Krinninger, Haidmühle

Er zündet sich die erste Zigarette an. Es ist drei Uhr früh und stockfinster. Bei jedem Zug glimmt sein Gesicht kurz auf, genauso wie das der Raucher um ihn herum. Sie stehen an der Bushaltestelle irgendwo am Straßenrand bei Waldkirchen.

"Guten Morgen, du hast bald Nachtschicht", raunt eine Stimme aus der Dunkelheit. Dann ist es wieder still. Die Scheinwerfer des herankommenden Busses verschaffen kurz einen Überblick: Etwa zehn Männer und zwei Frauen stehen da.

Wie Johann Lenz kommen sie aus den hintersten Ecken in Niederbayern, fahren erst mit dem Auto zum Sammelparkplatz, um dort in den BMW-Werksbus nach Dingolfing zu steigen. Für die vier bayerischen BMW-Werke in München, Landshut, Dingolfing und Regensburg stellt der Autokonzern eine Flotte mit knapp 150 Fahrplänen. Allein für das Werk Regensburg gibt es mindestens 50 Linien mit 500 Haltestellen.

Wenn Johann Lenz um kurz nach drei Uhr in den Bus steigt, ist er schon seit knapp einer halben Stunde wach. Sein Wecker klingelt um 2.30 Uhr. Von der Bettkante bis zum Auto müssen zehn Minuten reichen. "Da gibt's keinen Kaffee, gar nichts", sagt der 43-Jährige. Die Tasche packt er am Abend vorher. Frische Klamotten, ein Handtuch, die Brotzeit für die Pause, auch das Nackenkissen muss mit.

Um 2.40 Uhr steigt er in sein BMW-Coupé und rauscht durch die Nacht. Das macht er seit 23 Jahren so: Erst knappe 30 Kilometer mit dem Auto zum Sammelparkplatz und dann weiter mit dem Bus nach Dingolfing - und zurück. Einfache Strecke: 140 Kilometer, zwei Stunden Fahrzeit.

Insgesamt verbringt Lenz also vier Stunden am Tag auf der Straße. Hinzu kommt eine Acht-Stunden-Schicht. "Bis jetzt bin ich praktisch eineinhalb Jahre nur im Bus gesessen", sagt er und lacht. Ein Hauch von Verzweiflung liegt in der Stimme. "Wenn ich noch 20 Jahre schaffe, vor allem gesundheitlich, dann muss Schluss sein. Dann bin ich 63."

Als sich der gelernte Heizungstechniker als 20-Jähriger bei BMW bewarb, plante er nicht weit voraus. Er nahm den unbefristeten Vertrag erst mal an. Heute steht sein Haus mit Doppelgarage und Waldblick einen Sprung entfernt von Tschechien. Der Rasen ist gemäht, die Blumenbeete sind gepflegt, der Kredit ist fast abbezahlt. Die Frau hat einen Job im Nachbarort, die zwei Kinder gehen in der Umgebung zur Schule.

"Vor der Finanzkrise waren Grund und Immobilien bei Dingolfing unerschwinglich", sagt er. Deshalb blieb es bei Haidmühle. "Wir haben einen Bäcker mit kleinem Supermarkt, einen Metzger und eine Tankstelle mit Werkzeugladen, eigentlich alles, was man braucht", sagt seine Frau.

Gegenüber am Waldrand liegen bereits Teile des Naturschutzgebiets Bayerischer Wald. Ein Bussard setzt zum Angriffsflug an. Auch dafür nimmt Lenz den weiten Weg in Kauf. An diesem Tag ist er um vier Uhr nachmittags von der Frühschicht zurückgekommen. Davor hat er mit 2300 Bar Wasserhochdruck die Achsenträger verschiedener BMW-Serien ausgeformt. Dienstschluss war um halb zwei. "Wenn es sich auf dem Rückweg staut, kann es schon mal halb fünf werden, bis ich zu Hause bin", sagt er.

"23 Jahre Betriebszugehörigkeit setzt man nicht so einfach aufs Spiel"

Ein Nickerchen ist aber nicht drin. "Dann ruft die Gartenarbeit, oder es gibt was am Haus zu tun." Normalerweise geht er um zehn Uhr abends ins Bett. Mit viereinhalb Stunden Schlaf kommt er aus. Einen festen Schlafrhythmus hat er sowieso nicht. Auf eine Woche Frühschicht folgt gewöhnlich eine Woche Spätschicht.

Ab und zu kommen Nachtschichten hinzu. Die Spätschicht liegt ihm am wenigsten. Da bleibt kaum Zeit für die Familie, die sowieso schon rar ist. "Obwohl ich erst um zwölf Uhr mittags anfangen muss, stehe ich um sieben Uhr auf, um meine Familie wenigstens eine halbe Stunde beim Frühstück zu sehen." Vor Mitternacht kommt er in der Spätschicht nicht nach Hause.

"Es gibt Zeiten, da zweifelt man sehr, vor allem wenn man an die Jahre denkt, die schon so vergangen sind." Körperlich gehe es ihm gut, dafür macht ihm die psychische Belastung zu schaffen. Er sei leichter gereizt. In schlechten Phasen habe er überlegt, das Haus zu verkaufen und Richtung Dingolfing zu ziehen. Aber dann waren die Kinder da, und seine Frau hatte einen Job. Er war gebunden. "23 Jahre Betriebszugehörigkeit setzt man nicht so einfach aufs Spiel", sagt seine Frau.

Alternativen in der Umgebung sucht man vergebens. Kein hiesiger Arbeitgeber kann ihm ähnliche Konditionen bieten. BMW zahlt dagegen Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld und Gewinnbeteiligung. Nach zehn Jahren Firmentreue lockt dazu eine Betriebsrente. Im Monat bleiben Lenz 2 800 Euro netto, "das verdient man hier in der Gegend nie".

Mit der großen Fabrik in Dingolfing und einem kleineren Werk in Landshut ist BMW mit Abstand größter Arbeitgeber und wirtschaftliches Gravitationszentrum der Region. Die Fabrik in Dingolfing gibt 18 300 Menschen Arbeit, die Stadt selbst hat kaum mehr als 19 000 Einwohner. Bei einer Weltfirma zu arbeiten macht Lenz auch ein bisschen stolz. Warum sollte man als Mitarbeiter die Marke nicht repräsentieren? Auch seine Frau fährt einen weißen 1er BMW.

Zurück auf die A 92. Es ist 4.15 Uhr. Lenz sitzt auf seinem Stammplatz ganz vorne links. Er hat sich das Nackenkissen umgeschlagen, seinen Kopf nach hinten gelegt, er atmet tief. Erst an der Autobahnausfahrt bei Dingolfing weckt ihn die innere Uhr. Auf dem Busbahnhof vor dem Hauptwerk wuseln Tausende BMW-Mitarbeiter im orangefarbigen Flutlicht umher. Sie gehen zügig, aber nicht hektisch, keiner spricht.

Lenz muss hier noch mal umsteigen, in den Bus, der ihn zu seinem Arbeitsplatz im Werk 2.1 bringt. Seine Frau und Kinder können jetzt noch zweieinhalb Stunden schlafen. Ob die Kinder ihren Vater vermissen? "Die kennen das gar nicht anders", sagt er. Seinen Kindern wünscht er eine andere Zukunft. Auf der Rückfahrt schläft Lenz auch wieder, wie fast alle im Bus. Am Fenster ziehen die sattgrünen Hügel vorbei. Die interessieren ihn nicht. Der schönste Punkt in der Landschaft ist für ihn sowieso nur die Endhaltestelle.

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