Palliativmedizin:Wo der Oberärztin jedes Schicksal nahegeht

Tutzing, Krankenhaus, Dr.med. UllaMariam Hoffmann

Acht Zimmer hat die Palliativstation, im Flur hängen große Bilder von Traumlandschaften. Seit zwölf Jahren leitet Schwester Ulla Mariam diese Station.

(Foto: Georgine Treybal)

Ulla Mariam Hoffmann ist Medizinerin und Ordensschwester - sie leitet die Palliativstation im Tutzinger Krankenhaus. Dort kommt es nicht auf Maschinen und Therapien an, sondern nur auf die Sterbenden.

Von Martina Scherf

Der Tod ist in diesem Flur ein ständiger Begleiter. Wer als Patient hierher kommt, weiß, dass seine Lebenszeit bald zu Ende geht. In ein paar Tagen, Wochen, vielleicht Monaten. Obwohl - es gibt Menschen, die schöpfen hier so viel Kraft, dass sie dem Tod noch einmal ein Schnippchen schlagen. "Auch das gibt es", sagt Schwester Ulla Mariam oder: Doktor Ulla Mariam Hoffmann, Oberärztin und Benediktinerin. Sie würde sagen: Es liegt in Gottes Hand. Doch vieles hier liegt auch in den Händen dieser freundlichen, aber bestimmten Frau, denn sie leitet die Palliativstation am Tutzinger Benedictus-Krankenhaus.

Schwester Ulla Mariam trägt den Ordenshabit. Unter dem schneeweißen Schleier schauen graue Haare hervor, doch das Gesicht der 51 Jahre alten Nonne und Ärztin wirkt jung. Seit zwölf Jahren tut sie am Tutzinger Krankenhaus Dienst, ist für schwerst kranke Patienten da, für deren Angehörige, aber auch für viele andere, die das Thema Sterben lieber delegieren.

Palliativmediziner übertragen den Hospizgedanken ins Krankenhaus - und pflegen deshalb von Natur aus einen anderen Umgang mit ihren Patienten, als er im Klinikbetrieb sonst üblich ist. Zeit spielt hier eine große Rolle und Achtsamkeit, auch gegenüber vermeintlich belanglosen Bedürfnissen, etwa nach jemandem, der einfach nur die Hand hält, oder der Lust auf ein Stück Himbeerkuchen hat. Belanglos ist nichts mehr, wenn es ans Sterben geht. "Es ist eine Begegnung auf Augenhöhe", sagt Schwester Ulla Mariam.

Ärzte werden dafür ausgebildet, zu helfen und zu heilen, dazu verfügen sie über ein ganzes Arsenal an Geräten, Therapien und Medikamenten. Wenn aber nichts mehr hilft, weil der Krebs nicht mehr zu besiegen ist, dann sind die Helfer oft hilflos. "Reden haben sie selten gelernt, sie untersuchen lieber", sagt Schwester Ulla Mariam, diese Erfahrung macht sie immer wieder. Viele Patienten berichten, dass sie eine Odyssee durch Kliniken und Arztpraxen hinter sich hätten, mit Diagnosen und Therapien - aber niemand sprach mit ihnen über ihre Lebenserwartung und wie sie mit der Situation fertig würden.

"Die Menschen haben aber in der Regel ein sehr gutes Gespür dafür, was sie brauchen und wo sie stehen", sagt die Ärztin. Ja, mehr noch: "Manchmal erübrigt sich sogar viel Diagnostik, wenn man ausführlich mit ihnen gesprochen hat."

Aber es gebe auch Patienten, die nicht reden wollen oder können, sei es, weil sie den Arzt nicht enttäuschen wollen oder die Angehörigen. Dann versucht Schwester Ulla Mariam zu vermitteln, Brücken zu bauen. Der Tod ist ein heiliger Moment, sagt sie, "da gibt es keine vorformulierten Sätze". Man müsse gut vorbereitet sein, und "barfuß gehen" - sich selbst dieser existenziellen Situation ausliefern, so gut das geht.

Wenn jemand nicht reden will, respektiert sie das. Die meisten Patienten seien jedoch entlastet, wenn sie die Wahrheit hörten. "Patienten entwickeln sich enorm in dieser letzten Phase." Sich mit dem Leben versöhnen, den Tod akzeptieren, wem das gelinge, der könne meist friedlich sterben. "Wenn aber wichtige Dinge nicht geklärt sind, dann dauern Sterbeprozesse oft sehr lange."

Die Angehörigen haben Zeit, sich zu verabschieden

Einmal, erzählt sie, habe sie den Sohn einer Patientin angerufen und ihm gesagt, dass es wohl nicht mehr lange dauern werde, und dass er sie gehen lassen dürfe. "Später hat er mir erzählt, dass sie in jener Nacht, als er sich mit der Frage beschäftigte, wie er es ihr sagte, gestorben sei. Da ist noch mal eine Nähe entstanden, über die geografische Entfernung hinweg."

Das Telefon in ihrer Westentasche klingelt. An diesem Vormittag ist eine Patientin gestorben. Krebs. Eine Klinikmitarbeiterin möchte wissen, was jetzt zu tun sei. "Die Angehörigen kommen um 18 Uhr", antwortet Schwester Ulla Mariam, "und das Beerdigungsinstitut ist schon informiert." Es klingt geschäftsmäßig, aber man spürt: Jedes Schicksal geht der Ärztin nahe. Sie kennt die Geschichte jeder ihrer Patienten.

Acht Zimmer hat die Palliativstation im Tutzinger Krankenhaus, die Wände sind in hellem Beige gestrichen, im Flur hängen große Bilder von Traumlandschaften. Schmerzen, sagt die Oberärztin, muss niemand leiden. Die Klinik ist sogar spezialisiert auf Schmerztherapie. Und seit vor mehr als 25 Jahren die erste Palliativstation Bayerns im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in München eingerichtet wurde, hat sich viel verbessert. "Das wirkt sich auch auf andere Abteilungen der Krankenhäuser aus", stellt Schwester Ulla Mariam fest.

Wer auf der Palliativstation stirbt, bleibt so lange in seinem Zimmer liegen, bis die Angehörigen sich in Ruhe verabschiedet haben, wenn nötig auch 24 Stunden. In Tutzing dekorieren sie das Bett mit Blumen. Wenn die Angehörigen möchten, können sie eine Holzscheibe bemalen und mit dem Namen ihres Verstorbenen versehen. Sie können die Scheiben mit nach Hause nehmen, oder sie werden beim Trauergottesdienst ausgelegt oder im Rosenbeet des Patientengartens. Diese kleinen Rituale, die hier im Umgang mit dem Tod gepflegt werden, stiften Gemeinschaft.

Das Tutzinger Krankenhaus wurde früher von den Benediktinerinnen betrieben, heute gehört es zum Artemed-Konzern. Doch im Kloster nebenan wohnen noch immer 73 Schwestern. Auch Schwester Ulla Mariam hat dort ihr Zimmer, "mit eigenem Bad", und nimmt am ganz normalen Klosterleben teil: Aufstehen um fünf, Dusche, "und wenn die Zeit reicht, eine Tasse Kaffee", Laudes und Messe, dann eilt sie in die Klinik.

Mittags kehrt sie zum Gebet und Essen ins Kloster zurück - "aber das schwänze ich, wenn in der Klinik zu viel los ist", sagt sie und lacht. Nach Dienstende am Abend dann Chorgebet, Vesper - und oft noch mal zurück auf die Station. Und weil viele ihrer Mitschwestern hochbetagt sind, manche pflegebedürftig, "ist man da natürlich auch gefragt", sagt die Ärztin.

Für ein Privatleben bleibt keine Zeit

Es ist inzwischen später Nachmittag geworden, und sie hat heute weder gegessen noch getrunken, "aber das ist normal". Vier Wochen Urlaub hat sie im Jahr, dann geht sie radeln und schwimmen, kocht und besucht Schweigeexerzitien in anderen Klöstern. Das sei ihre Zeit zum Auftanken, sagt sie. Aber im Alltag, gibt es da überhaupt kein bisschen Privatleben abseits der Erwartungen von Klinik und Kirche? Nein, sagt Schwester Ulla Mariam und atmet tief durch: "Höchstens, wenn ich mal sage: Ich brauche eine Auszeit, ich kann nicht mehr."

Dass sie dieses Leben gewählt hat, hängt mit frühen Erfahrungen zusammen, meint sie. Als Kind war sie oft krank, musste mehrfach operiert werden. "Meine Mutter sagt, ich wusste schon im Alter von drei Jahren, dass ich Ärztin werden will." Als sie 13 war, erlitt sie einen Verkehrsunfall, "es war wie ein Wunder, dass ich das überlebt habe". Da spürte sie schon die Nähe zu Gott, die über die Jahre gewachsen ist. Noch vor dem Abitur beschloss sie, Medizin zu studieren und in einen Orden einzutreten. Sie entschied sich für die Missionsbenediktinerinnen.

Nach dem Studium in München und einigen Jahren Berufserfahrung in verschiedenen Kliniken ging sie für 13 Monate an ein Krankenhaus nach Tansania. 2003 kam sie zurück, machte den Facharzt für Innere Medizin und promovierte in Tropenmedizin, mit dem Wunsch, Dienst in der Mission zu tun. Doch da flammte in Deutschland gerade die Diskussion um Sterbehilfe auf. "Und ich dachte: In Afrika versucht man, mit den bescheidenen Mitteln Leben zu retten, und im reichsten Eck der Welt bringt man Leute um." Andererseits wuchs die Hospizbewegung, und so machte sie einen Master in Palliativ Care in Wien. Sie hat dann in Tutzing die Abteilung aufgebaut, die sie heute als Oberärztin leitet.

Ganz wichtig, sagt sie, sei der Teamgedanke in der Palliativmedizin: Ärzte, Schwestern, Pfleger, Psychologen, Seelsorger und eine Sozialarbeiterin betreuen die Patienten, dazu kommen ehrenamtliche Hospizhelfer und der Kontakt mit den ambulanten Diensten. Schwester Ulla Mariam wünscht sich, dass der Hospizgedanke noch viel mehr in der Gesellschaft verankert werde, "schließlich müssen wir alle mal sterben. Und wir müssen uns alle fragen, was wir dazu beitragen, damit Sterbende nicht einfach abgeschoben werden".

Eine ihrer ersten Patientinnen war eine alleinerziehende Mutter mit 38 Jahren. Sie litt an Brustkrebs, wie schon die Mutter und die Großmutter, und wusste, dass sie die Klinik nicht mehr verlassen würde. Sie hatte kein leichtes Leben gehabt, doch ihre beiden Töchter, 18 und 19 Jahre alt, waren die ganze Zeit für sie da, schliefen abwechselnd bei ihr im Zimmer. Und am Ende, erzählt die Ärztin, schrieben sie ins Klinikbuch: "Diese vier Wochen waren die beste Zeit im Leben unserer Mutter."

Das erleben Menschen auf der Palliativstation immer wieder, sagt Schwester Ulla Mariam: Dass ganz schlimme und ganz schöne Momente fast gleichzeitig geschehen, "das hat auch etwas mit Demut und Wahrhaftigkeit zu tun".

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