Ostbayern:Vom Armenhaus zur stärksten Wirtschaftsregion in Europa

Ostbayern: Idylle in Ostbayern: der Bayerische Wald.

Idylle in Ostbayern: der Bayerische Wald.

(Foto: Rainer Simonis/Nationalpark Bayerischer Wald)

Lange war das Leben in Niederbayern und der Oberpfalz hart und entbehrungsreich. Erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs kommt der Aufschwung - und ein gravierender gesellschaftlicher Wandel.

Von Katharina Schmid

Immer wieder gibt es lobende Worte für die gute Lage der ostbayerischen Wirtschaft. Etwa beim Jahresempfang der Industrie- und Handelskammer (IHK) Regensburg und der Handwerkskammer Niederbayern-Oberpfalz. Da pries Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) den Landstrich zwischen Tirschenreuth im Norden und Pfarrkirchen im Süden, Neumarkt in der Oberpfalz im Westen und Freyung-Grafenau im Osten an: "Ostbayern hat sich unglaublich entwickelt. Vom Armenhaus zum Raum mit besonderer Hochleistung. Meinen Respekt."

Es brauchte einige Impulse, bis die Region, die im Kalten Krieg jahrzehntelang am Rand der westlichen Welt lag, Lebensmut fasste und dank eines ausgeprägten Willens zum Wachstum zu dem wurde, was sie heute ist: eine Region mit Vorbildcharakter für ganz Europa, mit niedriger Arbeitslosenquote und hoher Lebensqualität.

100 Jahre Freistaat Bayern

Industriestandort und Heimat von Erfindern: Bayern hat stets von seiner weitsichtigen Industriepolitik profitiert. Im Rahmen von "100 Jahre Freistaat Bayern" widmen wir uns in einem Schwerpunkt fünf Tage lang der bayerischen Wirtschaft. Vom 11. Juni bis einschlielßich 15. Juni finden Sie jeden Tag um 19 Uhr eine neue Folge auf SZ.de. Alle bislang veröffentlichen Texte finden Sie auf dieser Seite.

Von dieser Entwicklung war vor 100 Jahren wenig bis gar nichts zu erkennen. Der Osten Bayerns befand sich im Dornröschenschlaf. Niederbayern und die Oberpfalz galten als rückständige Landstriche, weit entfernt von den damaligen wirtschaftlichen Zentren. Die Industrialisierung hatte zwar punktuell Einzug gehalten, etwa mit der Glasindustrie an der bayerisch-böhmischen Grenze, der Stahl- und der Holzindustrie.

Ein echter Strukturwandel blieb bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg aber aus. Das Leben war bäuerlich geprägt, hart und entbehrungsreich. Davon zeugen Schicksale wie das der Bäuerin Anna Wimschneider aus dem Rottal, die das gnadenlose Arbeitsleben auf dem Land festgehalten hat in ihren Lebenserinnerungen "Herbstmilch".

Die Verelendung der "Bayerischen Ostmark", ein Begriff, der sich nach dem Ersten Weltkrieg für die Oberpfalz, Oberfranken und Niederbayern nach und nach durchgesetzt hatte und namensgebend für den 1933 gebildeten NS-Gau sein sollte, erreichte Anfang der Dreißigerjahre ihren Höhepunkt. Vor allem den Bayerischen Wald mit seinen kargen Böden verließen die Menschen in Scharen.

Mit dem Zweiten Weltkrieg kam die Wirtschaft nicht nur in Ostbayern quasi zum Erliegen. Und auch mit dem Kriegsende 1945 blieb der Aufschwung vorerst aus. Ostbayern zählte mit seinem 40 Kilometer breiten Zonenrandgebiet entlang der böhmischen Grenze zu den Notstandsgebieten Bayerns. Viele Heimatvertriebene aus Osteuropa sorgten für einen enormen Bevölkerungszuwachs im Armenhaus des Freistaats. Arbeitsplätze fehlten, der Wohnraum war knapp und die ohnehin schon angespannte Lebensmittellage verschlechterte sich weiter. Während die Arbeitslosenquote 1953 in der Bundesrepublik durchschnittlich knapp neun Prozent betrug, lag sie in den Arbeitsamtsbezirken Cham und Deggendorf noch bei über 30 Prozent.

Zeitungen riefen wegen der regionalen Notstände in Ostbayern zu Spendenaktionen auf. Der Bund reagierte mit einer Reihe von Fördermaßnahmen. Denn die Teilung Europas entlang der ostbayerischen Grenze riegelte die Region ab, mögliche Absatzmärkte waren weit weg und aufgrund der schlechten Infrastruktur nur mühsam zu erreichen. "Dahinter war die Welt zu Ende", sagt der heutige Hauptgeschäftsführer der IHK Oberpfalz, Jürgen Helmes, über die Grenze zum Ostblock.

Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 war für Ostbayern daher ein einschneidendes Ereignis. "Wir sind vom Rand ins Zentrum Europas gerutscht", fasst Alexander Schreiner, Helmes' Kollege von der IHK Niederbayern, das zusammen, was danach geschah. Mit der EU-Osterweiterung 2004 gewannen Niederbayern und die Oberpfalz letztlich ihre Drehscheibenfunktion in der Mitte Europas zurück.

Wie Bulthaup die Küchen noch mit Pferdekutschen lieferte

Heute ist die Region aus wirtschaftlicher Perspektive eine der stärksten in Europa. Verantwortlich dafür sind einerseits die großen Unternehmen, die sich in Ostbayern niedergelassen haben, allen voran der Autobauer BMW. "Wenn BMW hustet, ist Niederbayern krank." So geht ein Sprichwort, das die Abhängigkeit der Region von der Automobilbranche verdeutlicht.

Neben den großen Unternehmen haben aber auch familiengeführte Betriebe den Strukturwandel in Ostbayern mitgetragen. Alexander Schreiner von der IHK Niederbayern sieht den "gesunden Branchenmix" als entscheidenden Faktor für die gute heutige Wirtschaftslage Ostbayerns. Vor allem die moderne, zukunftsfähige Industrie, Biotechnologie, Informations- und Elektrotechnik, Maschinenbau, Metall- und Autoindustrie, seien wichtige Standbeine der Region, stimmt Helmes seinem niederbayerischen Kollegen zu.

Erfolgsgeschichten, die in Ostbayern in den vergangenen 100 Jahren geschrieben wurden und den ökonomischen Aufstieg der Region mit bewirkten, gibt es zahlreiche. Manche Unternehmen begannen noch vor der Gründung des Freistaats, andere sind erst wenige Jahre alt. Hinter allen stehen Menschen mit Mut und Leistungsbereitschaft.

Eine dieser Erfolgsgeschichten ist die der Familie Händlmaier. Sie beginnt mit der Idee einer findigen Frau. Johanna Händlmaier, Frau des Metzgermeisters Karl, erfindet 1914 den süßen Hausmachersenf. Der Grundstein für die Firma ist gelegt. Sie gehört heute dem Urenkel der Erfinderin, produziert noch immer in der Nähe von Regensburg und exportiert diesen unentbehrlichen Begleiter der Weißwurst mittlerweile in mehr als 30 Länder.

Oder die Geschichte des Küchenherstellers Bulthaup. Firmensitz: der 2000-Einwohner-Ort Aich im niederbayerischen Vilstal. 1951 werden die Küchenbuffets noch auf Pferdewagen in die nähere Umgebung geliefert. Heute verkauft Bulthaup, geführt vom Enkel des Firmengründers, seine Designerküchen weltweit zu Hochpreisen. Über 80 Prozent des Umsatzes erzielt das Unternehmen im Export.

Eine der jüngeren dieser ostbayerischen Erfolgsgeschichten ist jene von MyMuesli. Im Jahr 2007 startet das Start-up dreier Passauer Studenten als Online-Müsli-Versand. Heute sind ihre Läden in Deutschland, Österreich und in der Schweiz zu finden.

Die Liste solcher Geschichten ist lang. Walter Keilbart hat als ehemaliger Hauptgeschäftsführer der IHK Niederbayern mehr als 30 Jahre die wirtschaftliche Entwicklung der Region und damit diese und ähnliche Firmengeschichten beobachtet. Seine Beschreibung des niederbayerischen Unternehmers klingt fast schon poetisch: "Er steht mit beiden Beinen fest auf der Erde und ist tief verwurzelt. Deshalb kann er den Kopf weit nach oben strecken, ohne die Bodenhaftung zu verlieren."

Mut zur Innovation, Leistungsbereitschaft und ein Gefühl für den Markt - diese Eigenschaften zeichnen ihn laut Keilbart aus. Keilbart spricht von ehrbaren Kaufmännern und davon, dass ein Handschlag hier noch etwas wert sei. Beim Kunden komme diese Mentalität an, auch im internationalen Geschäft. Vielleicht ist auch das mit ein Grund, warum die Exportquote in Niederbayern und in der Oberpfalz bei mehr als 50 Prozent liegt.

Der Weg vom Armenhaus zur Aufsteigerregion brachte den lang ersehnten Wohlstand nach Ostbayern. Die Region hat sich mit diesem Wandel gravierend verändert: vom katholisch-konservativen Bauernland zum gesellschaftlich pluralen Wissenschafts- und Industriestandort. So jedenfalls fasste es Stefan Rieder, Kreisheimatpfleger im Landkreis Landshut, in seiner Diplomarbeit zusammen. Dieser Weg hat auch Kritiker auf den Plan gerufen, etwa an der Industrialisierung der Landwirtschaft, der Zerstörung der Umwelt. Aus ökonomischer Sicht bleibt er dennoch eine unumschränkte Erfolgsgeschichte.

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