Ostallgäu:Drogensüchtige therapieren unter den Augen des Herrn

Irsee: Fazenda da Esperanca - Gut Bickenried

Fazenda da Esperanca, Hof der Hoffnung, heißt das Projekt, das der deutsche Franziskaner Hans Stapel in Brasilien gegründet hat.

(Foto: Johannes Simon)

Im Ostallgäu behandelt die Gemeinschaft "Fazenda da Esperança" Süchtige mit Gebet und strengen Regeln. Leiter Luiz Fernando Braz ist überzeugt: "70 Prozent der Therapierten bleiben clean."

Von Tobias Ott

Von der linken Hand baumelt ein Rosenkranz, in der rechten hält Saman T. ein Gebetbuch. Er schließt die Augen und neigt seinen Kopf nach unten. Es ist sieben Uhr, das Morgengebet auf Gut Bickenried beginnt. In einem Nebenraum, der als Kapelle eingerichtet ist, sitzt der 37-Jährige im Stuhlkreis um einen Holzaltar und spricht das Vaterunser.

Der Kontakt mit Gott ist für den Iraner neu, der Umgang mit Drogen nicht. "Obwohl ich Moslem bin, war mir die Religion egal", sagt Saman T., der als Asylbewerber 2002 mit einem gefälschten Pass nach Deutschland kam. Er wollte ein Leben in Freiheit, doch es war der Anfang seines Absturzes. Mit 22 Jahren begann er Heroin zu nehmen, später kam Chrystal Meth hinzu. "Ich war anfällig, da ich außer den Kriminellen im Asylheim keinen kannte", sagt Saman T., "wenn du keine Anerkennung findest, ist der Weg zu Drogen der kürzeste." Nach zwei Therapien und sechs Gefängnisaufenthalten musste er immer wieder zurück in die Unterkunft. Selbes Wohnviertel, die selben Mitbewohner. Alles wie bisher: Löffel erhitzt, Spritze aufgezogen und der Stich in die Vene.

Insgesamt sechs Jahre seines Lebens verbrachte Saman T. hinter Gittern. Eine Episode aus seiner Drogenkarriere, seinem bisherigen Leben. Inzwischen hat er ein neues begonnen. Heute lebt er mit sechs Männern auf der Fazenda da Esperança, einem abgeschiedenen Bauernhof, nahe der Gemeinde Irsee im Ostallgäu.

Vor 34 Jahren gründete der deutsche Franziskaner Hans Stapel in Brasilien diese Lebensgemeinschaft. Mitglieder der katholischen Kirche nahmen die Bibel als Leitlinie und halfen ausgeschlossenen und süchtigen Menschen. Weltweit stellten sie mehr als 120 Einrichtungen auf die Beine. In Deutschland entstand vor knapp 20 Jahren die erste Fazenda außerhalb Brasiliens. Gut Bickenried war 2007 die zweite deutsche Einrichtung. Mittlerweile existieren sieben Höfe. Davon zwei Fazendas nur für Frauen. In Bayern ist der Hof der Hoffnung als Therapiestelle nach dem Betäubungsmittelgesetz anerkannt. Bleibt der Patient mindestens zwölf Monate auf der Fazenda, kann die Justiz die restliche Strafe zur Bewährung aussetzen.

Gemeinschaft, Arbeit und Spiritualität sind die drei Säulen der Behandlung. Der Hofleiter, Luiz Fernando Braz, und die ehemaligen Suchtkranken leben 24 Stunden miteinander. Sie richten den Alltag nach der Bibel aus. "Auch Gott kann süchtig machen", sagt Braz, der vom Fazenda-Gründer Stapel getauft wurde und vor zehn Jahren aus Brasilien nach Deutschland kam.

Er zupft auf der Gitarre. Draußen tanzen die Schneeflocken im Winterwind. Nach dem Morgengebet erhalten die Hofbewohner einen Satz aus der Bibel mit auf den Weg. "Diesen Satz soll jeder bis zum Abend umsetzen", sagt Braz. Heute lautet er: Aus Liebe handeln. Viele Patienten handeln alleine schon aus Liebe, wenn sie den ersten Schritt auf die Fazenda setzen. Aus Liebe zu ihrer Familie und ihrem eigenen Leben.

Meist erfahren die Männer von Sozialarbeitern in den Gefängnissen von der Einrichtung. Aus den Bewerbungen wählt Hofleiter Braz aus. Platz für maximal 16 Patienten hätte er, aber Gut Bickenried sei noch nie voll gewesen. "Viele denken, wir sind Mönche", sagt er, "das schreckt die meisten ab." Der Patient muss nicht drogenabhängig gewesen sein. Auch Mager- und Sexsüchtige fanden auf dem Hof der Hoffnung einen Platz, ebenso wie Verzweifelte mit Depressionen und Schwererziehbare. Auch Konfessionslose oder Muslime nimmt die Fazenda auf. "Zum Beten wird keiner gezwungen", sagt Braz, "nur die Anwesenheit zu den Gebetszeiten ist Pflicht."

Außerdem gelten auf Gut Bickenried strengere Regeln als in der Klinik oder im Gefängnis. Die Patienten verzichten auf Fernsehen, Internet und Smartphone. Es herrscht Alkohol- und Rauchverbot. Hinzukommen die täglichen Arbeiten in der Landwirtschaft. Sie bauen Gemüse an, züchten Schweine und Gänse, die sie schlachten lassen, halten Hühner und Schafe. Prinzip Selbstversorgung. Der Tagesablauf ist getaktet. Die Aufgaben sind klar verteilt. Das Gutsgelände dürfen sie nicht verlassen.

Strenge Regeln, anfangs kritische Nachbarn

Die Vorschriften hält nicht jeder durch: "Die Hälfte bricht wieder ab", sagt Braz. Sie kämen mit dem Lebensalltag und den Regeln nicht zurecht. Am Dreikönigstag ist ein Bewohner über Nacht abgehauen. Nach vier Monaten Therapie und bereits das vierte Mal. Bei Regelverstößen verweist der 31-Jährige die Patienten vom Hof. In einer Chipsdose, die in einem Postpaket ankam, habe ein Patient mal versucht, Drogen und ein Handy zu schmuggeln, sagt Braz. Für ihn war der Fazenda-Aufenthalt beendet.

Saman T. breitet ein weißes Laken aus. Er überzieht die Betten für Gäste. Auch im Winter sind die zehn Zimmer für etwa 25 Euro pro Nacht gebucht. Eine wichtige Einnahmequelle, denn der eingetragene Verein finanziert sich weitgehend selbst und durch Spenden. Im Nebengebäude bewirtschaften die Männer einen Hofladen und ein Café. Weitere Einkünfte erhalten sie aus dem Bücherversand von "Kirche in Not". Neben Bibeln auf Arabisch stapeln sich im Lager Prayerboxen, Döschen zum Beten für unterwegs, mit Rosenkranz, Kreuzanhänger und Weihwasser.

Anfangs war die Bevölkerung von der Fazenda da Esperança wenig begeistert. Wer will schon Drogenabhängige in der Nachbarschaft haben? In den vergangenen Jahren legte sich die Skepsis. Inzwischen brächten die Irseer Geschenke und besuchten das Hofcafé, sagt Braz. Der Bezirk Schwaben, Besitzer der Immobilie, stellt das Gut für einen Symbolpreis in Erbpacht zur Verfügung. Auch das Bistum Augsburg finanzierte den Neubau eines Gebäudes mit weiteren Gästezimmern und einem Veranstaltungsraum.

Nach etwa einem Jahr sollen die Männer wieder auf eigenen Beinen stehen, Verantwortung übernehmen und nach christlichen Werten leben. "70 Prozent der Therapierten bleiben clean", sagt Braz. Eine hohe Erfolgsquote, liegt der Durchschnitt bei anderen Therapien doch deutlich darunter. Jost Leune, Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe, nennt eine Faustformel: "Etwa 33 Prozent schaffen von den Drogen wegzukommen, bei dem anderen Drittel tritt eine Besserung ein, die restlichen werden wieder rückfällig."

Verlässliche Zahlen gebe es nicht, da lediglich Stichproben erhoben werden könnten und die Therapierten auf eine Nachfrage oft nicht antworten, sagt Christa Merfert-Diete, Sprecherin der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Den Erfolg, den Braz reklamiert, kann niemand richtig überprüfen. Der gelernte Grafiker, der keine therapeutische Ausbildung vorzeigen kann, schwört jedenfalls auf sein religiöses Heilverfahren: "Sucht hat auch viel mit Sehnsucht zu tun." Bei der Fazenda-Therapie gehe es nicht nur darum, von den Drogen wegzukommen, sondern auch darum, einen neuen Lebensstil zu lernen. Braz leistet eine intensive Nachsorge. Er hilft bei der Suche nach Arbeitsplätzen und bleibt über Jahre mit den Männern in Kontakt.

Vor dem Mittagessen schließt Saman T. wieder die Augen. Am Tisch sprechen die Patienten das Dankgebet. Danach geht die Hofarbeit weiter, bis abends um fünf Uhr. Seine restliche Freiheitsstrafe von neun Monaten ist mittlerweile zur Bewährung ausgesetzt. Er hofft, dass die Staatsanwaltschaft seine Strafe erlässt. Ein im Innenhof an einen Baum genageltes Holzbrett mit der Aufschrift "Hoffnung" erinnert ihn täglich daran: Es ist noch nicht zu spät.

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