ORF-Empfang in Bayern:Charakter-Fernsehen

Wer früher mit dem ORF sozialisiert wurde, hat alles erlebt: Siegestrunkene Fußballreporter, abgründige Komödianten, unmögliche Kommissare und eine Nina Hagen, die sich selbst befriedigt.

Hans Kratzer

In den siebziger Jahren hatten die Menschen noch Muße. Es gab kein Smartphone und kein Internet, das Fernsehprogramm war von mäßigem Umfang, weshalb sich erlebnishungrige Zuschauer lieber den Reizen der Natur und des Wirtshauses hingegeben haben. Die Fernsehabstinenz fiel auch deshalb leicht, weil das Programm der drei deutschen und zwei österreichischen Sender, die in Südbayern zu empfangen waren, allzu oft die Anmutung eines Seniorenkränzchens trug.

Kaisermühlen Blues

Eine Szene aus "Kaisermühlen Blues".

(Foto: ORF/MR-Film/Contessina Bauer)

Am 9. August 1979 aber wurde der von Lassie, Fury und Bonanza getrimmte Heile-Welt-Kosmos jäh zertrümmert. Zwar hatten Filme wie "Die Sünderin", "Wildwechsel" und "Jagdszenen aus Niederbayern" die damaligen Grenzen des guten Geschmacks bereits touchiert und das Publikum fast tiefer erschüttert als Mord und Totschlag, aber gegen die an jenem Abend vom ORF präsentierte Provokation war das harmlos.

Das Österreichische Fernsehen ließ seine Zuschauer bereits Jahre vor der Einführung des Privatfernsehens in dessen sittenlosen Abgründe blicken - und maßgeblich beteiligt war die Berliner Göre Nina Hagen.

Auch in Bayern hatte sich herumgesprochen, dass die ORF-Talkshow "Club 2" jeden Schlafverzicht lohnte. Die Diskutanten gebärdeten sich überheblich und siebengescheit und offenbarten üble Charakterzüge in einer Offenheit, wie dies in der deutschen Wum-und-Wendelin-Unterhaltung noch unüblich war.

Dort hatten der Boxer Norbert Grupe, der ein ZDF-Interview schweigend hinter sich brachte, und die Sportmoderatorin Carmen Thomas, die Schalke 05 sagte, für harmlose Skandale gesorgt. Ansonsten zelebrierten beleibte Herren mit monumentalen Hornbrillen zwischenmenschliche Verkrampftheit, um hernach von Loriot persifliert zu werden.

Nina Hagen redete an jenem Abend im ORF rotzfrech daher, bohrte virtuos in ihrer Nase und schnitt Grimassen wie ein Berggorilla auf Koks. Anschließend reckte sie auf dem Sofa ihren Hintern in die Höhe und erklärte quietschig und mit eindeutigen Gesten weibliche Masturbationstechniken. In weniger als 20 Sekunden trat sie einen TV-Skandal los, der in Bayern als Präludium zum Untergang des Abendlandes interpretiert wurde und in Österreich fast eine Staatskrise heraufbeschwor. Der Moderator Dieter Seefranz, der seinen lieben Gast hatte gewähren lassen, verlor seinen Job.

Dem Publikum war das wurscht, auch in Bayern war der "Club 2" von da an Kult. Wer Skandale, Emotionen, nationalen Überschwang erleben wollte, drückte nun den ORF-Knopf, weil dieser Sender die Welt irgendwie frecher und frischer interpretierte als das deutsche Behördenfernsehen, in dem sogar Sportberichte im Stile des Vorworts zum Baugesetzbuch vorgetragen wurden.

Um wie viel unterhaltsamer muteten da die Übertragungen aus Wien an, deren Reporter große Sportereignisse mit einer fast an Chauvinismus grenzenden Leidenschaft begleiteten. Vor allem die Formel-1-Berichterstattung am Sonntagnachmittag geriet im ORF zu einem journalistischen Hochamt, dem sich selbst Motorsporthasser nur mit Mühe entziehen konnten. Manche haben das Vibrieren der Boliden fast körperlich gespürt, wenn Heinz Prüller das Surren der Motoren mit seinem unerschöpflichen Hintergrundwissen unterlegte. Manchmal verlor Prüller die Orientierung, so dass er vor lauter Fakten den Rennverlauf aus den Augen verlor. Wenn er dann merkte, dass ein Fahrer die Kurve nicht gekriegt hatte, dann konnte er ad hoc sämtliche Ausrutscher dieses Piloten aufzählen und auch alle Lenkfehler anderer Fahrer an dieser Kurve seit Christi Geburt.

Ein Fernsehkoch kocht, ohne zu schwätzen

In Zeiten ohne Google und Wikipedia musste man die ORF-Reporter schon wegen ihres überbordenden Wissens lieben; dort waren Leute am Werk, die selbst die Uroma des Ersatzbremsers des Bobs Jamaika II wie aus der Pistole geschossen beim Namen nennen konnten. Es gab aber auch Moderatoren wie Werner Schneyder, die sich dem Phänomen Sport mit dem Werkzeug des Philosophen näherten. Mit Schneyders Weisheit konnte in Deutschland höchstens ein Harry Valérien mithalten. Vor allem aber erfreuten den bayerischen ORF-Zuschauer die wortmächtigen Reporter an den Skipisten, die der großen Nachbarnation zeigten, mit welcher Inbrunst ein kleines Land seine Siege feiert, mit welcher Demut es aber auch Anteil nimmt am Erfolg der Heroen der Fußballwelt, etwa mit gebetsmühlenhaft wiederholten Hinweisen bei Live-Übertragungen, auf der Ersatzbank des FC Bayern hocke auch ein Österreicher.

Und doch mindern solche patriotischen Einsprengsel keineswegs die soliden Urteile eines "Schneckerl" Prohaska, des einstigen Mittelfeldstars von Inter Mailand, dessen Analysen von Champions-League-Spielen ein Umschalten vom deutschen Sender auf den ORF dringend nahelegen, und sei es nur, um seinen subversiven Dativ zu erleben ("er hätte dem Elfmeter nicht pfeifen dürfen").

Prohaska war am 21. Juni 1978 an jenem denkwürdigen Spiel beteiligt, das als die "Schmach von Cordoba" in die deutsche Geschichte eingegangen und in einer der berühmtesten deutschsprachigen Radioreportagen dokumentiert ist. In der Zwischenrunde der Fußball-WM hatten die Österreicher Deutschland mit 3:2 besiegt, begleitet von einem Tsunami des Sportjournalismus, den der ORF-Reporter Edi Finger sen. ausgelöst hatte, während er das Ereignis im Radio kommentierte.

Die Reportage ist in ihrer Wucht nur im O-Ton nachzuvollziehen: "Da kommt Krankl, vorbei diesmal an seinem Bewacher, ist im Strafraum - Schuss ... Tooor, Tooor, Tooor, Tooor, Tooor, Tooor! I wer narrisch! Krankl schießt ein - 3:2 für Österreich! Meine Damen und Herren, wir fallen uns um den Hals; der Kollege Rippel, der Diplom-Ingenieur Posch - wir busseln uns ab. 3:2 für Österreich durch ein großartiges Tor unseres Krankl. Er hat olles überspielt, meine Damen und Herren. Und warten S' noch a bisserl, dann können wir uns vielleicht ein Vierterl genehmigen . . ."

Das war großes Theater in einer Zeit, in der Radio und Fernsehen noch nicht im Meer der Beliebigkeit ersoffen waren und sich gerade im ORF große Charaktere entwickeln konnten. Helmut Qualtinger (1928-1986) etwa, dessen Charakterkopf geeignet war, auch eine bayerische Kinderseele bis in den Schlaf hinein zu verfolgen. Qualtinger als Eichmeister Eibenschütz, als Herr Karl und nicht zuletzt als Kommissar Pokorny in dem Kriminalfilm "Kurzer Prozess", der von der Düsternis der österreichischen Provinz in den sechziger Jahren geprägt ist, in der er sich "mit idiotischen Gscherten abgeben musste, die sich gegenseitig die Hendl stehlen", wie er damals raunzte.

Ein Panoptikum österreichischer Seelenzustände und Charaktertypen" (Der Standard) ausbreitend, schuf dieser Streifen ein Grundmuster des österreichischen Films, das später lediglich um ironische Milieukomponenten erweitert wurde, wie dies exemplarisch in der Erfolgsserie "Kaisermühlenblues" (1992-1999) vorexerziert wurde. Die unverfälschte Darstellung der Wiener Arbeiterschicht geriet zu einer der erfolgreichsten Fernsehserien in Österreich überhaupt und fand wie die Krimiserie "Kottan ermittelt" auch in Bayern lebhaften Zuspruch. Ähnliches gilt für die heutigen ORF-Krimiserien wie "Schnell ermittelt" und "Vier Frauen und ein Todesfall", die nicht nur mit großartigen Schauspielerinnen wie Ursula Strauss und Adele Neuhauser aufwarten, sondern mit einem Lokalkolorit, dessen Stimmigkeit viele deutsche Produktionen vermissen lassen. Vor allem das ZDF hat es zu großer Meisterschaft im sinnlosen Stilmix gebracht, dort reden Menschen im Allgäu plötzlich oberbayerisch und jene in der Jachenau Fränkisch.

Seit einigen Jahren kann leider nur noch das nahe an der Grenze lebende bayerische Fernsehpublikum die ORF-Programme empfangen und damit erleben, wie sich im Nachbarland die Fähigkeit zu eigenwilligen Formaten weiterentwickelt hat, etwa in der Comedy-Schiene "Donnerstag Nacht". Hier wurde die satirische Talkshow "Wir sind Kaiser" gezeigt, in der Seine Majestät Robert Heinrich I. und sein Obersthofmeister Seyffenstein Politiker und Prominente auf eigenwillige Weise in die Mangel nahmen. Dazu gehört auch die Late-Night-Show "Willkommen Österreich" mit Dirk Stermann und Christoph Grissemann, die keinen Vergleich mit deutschen Talkshows zu scheuen braucht.

Wenigstens bleibt dem bayerischen Zuschauer die überragende Großstadtmenschen-Serie "Schlawiner" nicht vorenthalten, deren neue Staffel auch im Bayerischen Fernsehen gezeigt wird (freitags 22 Uhr). Sie belegt einmal mehr, dass der deutschen Haudrauf-Lustigkeit einfach die Zentralfriedhofsironie und die Donaumelancholie als nie versiegender Quell guter Unterhaltung fehlen. Jedenfalls von der bayerischen Warte aus betrachtet, aus der zum Glück zu vernachlässigen ist, wie umstritten der ORF im eigenen Land bewertet wird, wie viele Intrigen dort hinter den Kulissen spielen und wie sehr der Parteienfilz im Sender die Österreicher nervt.

Wenn der Tag ausklingt, dann könnte die größte Stunde des Fernsehens schlagen. Der Bayerische Rundfunk hat einst bewiesen, mit welcher Noblesse, mit welchem Tiefsinn um diese Zeit Programm gemacht werden kann, etwa mit der wunderbaren Reihe "Zuschauen-Entspannen-Nachdenken", in der kontemplative Bilder mit einfühlsamen Texten verknüpft wurden. Heute lässt man solche Formate nicht mehr zu, ein hektisches und sinnfreies Kinderprogramm aber schon. Wieder ist es das Österreichische Fernsehen, das mit der nächtlichen Kochsendung "Silent Cooking" gegen den Strom schwimmt.

Ausgerechnet in dem Genre also, in dem es an eitlen und lauten Selbstdarstellern nicht mangelt, wird Ruhe zelebriert. Man hört nur das Zischen des heißen Öls und das Klappern der Teller, schaut dem jungen und schweigenden Fernsehkoch Patrick Müller zu und spürt so deutlich wie in keiner Sendung, dass es nicht gegen die Würde des Fernsehens verstößt, wenn dort Stille einkehrt.

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