Obermaiselstein:Zu Besuch bei Stuzzemuzz und Maringga

Der Wolfgang aus Obermaiselstein führt durch das mythische und unterirdische Allgäu. Auf dem Weg zur Sturmannshöhle erklärt er den Kindern, dass man eine Fackel mithilfe eines Drachen entzündet

Von Stefan Mayr, Obermaiselstein

"I bin der Wolfgang", sagt der Sagenerzähler, "du darfsch du sagen." Der Wolfgang. Kariertes Kurzärmelhemd, knielange Hose, Sandalen, Vollbart, stämmige Waden. Er hat nix dabei bis auf sein unerschöpfliches Reservoir an Geschichten. 50 Männer und Frauen, Buben und Mädchen nimmt der Wolfgang mit auf seine "Sagen-Wanderung" von Obermaiselstein zum Schwarzenberg. Beim Start kurz vor Sonnenuntergang wird noch gejammert. "Schon wieder laufen", nörgelt ein Mädchen. Die armen Kinder, sie haben heute sicherlich schon viele Stunden auf ihren Beinen verbracht - und null Bock mehr auf eine weitere Wanderung. Doch das Problem ist ganz schnell gelöst: Kaum erzählt der Wolfgang seine erste Geschichte, kippt die Stimmung.

Plötzlich rennen die eben noch lautesten Jammerer flink umher. Sie springen und drängeln, damit sie ja nichts von dem verpassen, was der Wolfgang im Gehen zwischen den Stationen erzählt. "Wie werden die Fackeln angezündet?", fragt eine ganz Kleine. "Die halten wir dem Drachen vors Maul", brummt der Wolfgang, "und der spuckt dann Feuer." Viele große Augen gucken ihn an. Schweigen. Ein Bub widerspricht: "Aber wir gehen doch gar nicht in seine Höhle rein." Stimmt, sagt der Wolfgang. "Aber vielleicht ist er ja mal draußen." Wieder großes Schweigen.

Wsser und Höhlen im Allgäu

Die Sturmannshöhle und die Breitachklamm wurden von der Natur über Millionen Jahre hinweg erschaffen.

(Foto: Stefan Puchner)

Der Wolfgang erzählt, wie die Buben früher noch mit Lederhose und ohne Schuhe rumliefen. Und wenn es im Winter zu kalt war, "dann sind sie mit ihren Füßen in den frischen Kuhfladen neigstapft, um sich aufzuwärmen", sagt der Wolfgang. "Aber iiii", kreischt ein Mädchen mit rosa Turnschuhen. "Ja", lacht der Wolfgang, "aber weil das alle gemacht haben, hat es im Klassenzimmer gleichmäßig gestunken."

Ab und an wurden in Obermaiselstein auch sehr edel gekleidete Gestalten gesehen, erzählt der Wolfgang. "Sogar mit Strümpfen und Schuhen." Aber sobald man ihnen näherkam, waren sie verschwunden. Die Venediger-Mändle. Eine Sage, die man sich im gesamten deutschsprachigen Alpenraum "verzählt", wie der Wolfgang sagt. Diese Mändle kamen aus Venedig, sie hatten einen Zauberspiegel und suchten nach Gold. "Ihre Schätze lagern heute noch hier", erzählt der Wolfgang. Einer davon mitten in der Sturmannshöhle. Aber Vorsicht: Jedem, der sich nähert, droht das Verderben. Gut, dass die Kinder erst am nächsten Tag in die Höhle müssen.

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Jetzt geht es erst einmal zu den vier wilden Fräuleins. Die heißen Stuzzemuzz, Maringga, Tschudre Mudre und Ringede Bingge. In der Dunkelheit kann man ihre Schatten nur erahnen über dem Fallenbach, der aus dem Berg herausplätschert. Dem einen oder anderen Wanderer ist es mulmig zumute, zumal die Fackeln immer noch nicht brennen. "Die zünden wir erst an, wenn es kuahranzanacht ist", sagt der Wolfgang. Für alle Nicht-Allgäuer: Es muss erst so dunkel sein wie im Bauch einer Kuh.

Der Wolfgang verlangt seinen Gefolgsleuten wirklich einiges ab: Geduld, Ausdauer, Mut. Er erzählt seine Geschichten ungewöhnlich detailliert, fast schon langatmig. Aber das ist gut so: Es ist ein Kontrastprogramm zur gewohnten Oberflächlichkeit und Schnelligkeit im Alltag. Wer sich auf den Wolfgang und seinen Erzählstil einlässt, für den ist das reinste Erholung. Die Kinder hängen ihm sowieso an den Lippen. Der Wolfgang spricht alle Sinne an: "Was hört man da?", flüstert er. "Schnarchgeräusche?" Oder doch nur Wasser? "Was so ein Tropfen schon alles erlebt hat", sagt der Wolfgang. "Hörsch mal zu, was der zu erzählen hat." Klar, dass hierzu die Fackeln noch aus sein müssen. Erst nach zwei Stunden darf es endlich hell werden. Auf dem langen Heimweg hört man kein einziges Kind jammern. Dazu sind sie alle viel zu beschäftigt mit ihrem Feuer - und mit dem Gehörten. "Det war ne coole Geschichte", sagt ein Junge. "Aber det mit dem Spiegel gloob ich nich."

Am nächsten Tag wartet das nächste Abenteuer: die Sturmannshöhle. Zunächst läuft man eine gerade Strecke vorbei an Drachentor, Kreuzeck und Höhlenrachen. Eng und kalt ist es hier drin. Acht Grad, 96 Prozent Luftfeuchtigkeit. Den Oberkörper muss man kräftig nach rechts biegen, wie ein Schlangenmann oder eine Bauchtänzerin muss man sich nach vorn arbeiten. Manchmal heißt es bücken, manchmal tut sich über einem ein 40 Meter hoher Felsspalt auf. Doch dann wird es erst richtig spannend: 180 Gitterstufen geht es steil bergab. Tief hinein in die 120 Millionen Jahre alten Gesteinsformationen. Ein diffuses Rauschen ist zu hören. Es wird immer lauter. Am Ende steht man 470 Meter unterhalb der Oberfläche des Schwarzenbergs, inmitten des stürmischen Höhlenbachs, der links und rechts an einem vorbeirast. Das Allgäu, es hat jenseits von Kuhweiden und Bergpanoramen auch unter der Erde einiges zu bieten. Auch wenn sich das Venediger-Mändle diesmal leider nicht gezeigt hat.

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