Nobelpreisträger:In Lindau wächst die Welt zusammen

Auf der 65. Tagung am Bodensee geht es um Viren, Gene und Schwarze Löcher. Doch mindestens ebenso wichtig ist der geistige Austausch zwischen den Menschen aus verschiedenen Kulturen

Von Martina Scherf, Lindau

Bert Sakmann legt das Sakko ab und lässt den Blick über den See schweifen. Die Sonne brennt auf die Uferpromenade. Im Hafen liegen sauber polierte Privatjachten, weiter draußen ziehen weiße Segel ihre Bahnen übers Wasser, im Hintergrund leuchten blau die Schweizer Berge. "Das ist doch die schönste Kulisse", sagt der Laureat, "der Blick von der anderen Seite herüber ist ja eher langweilig." Unüberhörbar spricht da der Lokalpatriot, der nach vielen Lebensstationen an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt ist. Seit der Mediziner und Nobelpreisträger von 1991 emeritiert ist und ein bisschen mehr Zeit hat, forscht er nicht mehr nur über Schaltkreise in der Großhirnrinde, sondern auch zur Lindauer Geschichte.

Pulverturm, Mangturm, Diebsturm - zu jedem Denkmal kennt Sakmann die Geschichte. "Im Diebsturm wurden früher nicht nur Diebe, sondern auch einfache Frauen und Kinder in Käfige gesperrt und solange ins Wasser gehängt, bis keine Luftblasen mehr aufstiegen." Malefizturm heißt das Denkmal im Volksmund. Heute radeln Touristen ahnungslos daran vorbei. Auch die Wissenschaftler, die aus aller Welt zur Nobelpreistagung kommen, wissen meist nichts von den Menschen und Geschichten rund um den Bodensee. Deshalb will Sakmann ein Buch schreiben.

Nobelpreisträger: Bert Sakmann am Lindauer Hafen. Der Mediziner und Nobelpreisträger verbrachte seine Kindheit am Bodensee und forscht zur Geschichte der Stadt.

Bert Sakmann am Lindauer Hafen. Der Mediziner und Nobelpreisträger verbrachte seine Kindheit am Bodensee und forscht zur Geschichte der Stadt.

(Foto: Martina Scherf)

Dass sich hier Wissenschaftler treffen, die dem freien Geist verpflichtet sind, passt gut zu diesem Ort, findet er: "Die Lindauer waren immer selbstbewusst und unternehmungslustig." Sie verschifften Wein, Obst, Leinen, pflegten beste Beziehungen nach Italien und wehrten sich immer wieder erfolgreich gegen Papst und Kaiser. Als ihnen die Weinpest die Reben verdarb, haben sie Most aus ihren Äpfeln und Birnen gemacht und trotzdem gefeiert. "Die Lindauer Moschtköpf sind eigentlich ein Ausdruck von Flexibilität", sagt Sakmann anerkennend und steigt die Stufen von der Hafenmauer hinab. Er will zurück zur Inselhalle, um die Vorträge einiger Nobel-Kollegen zu hören.

Die Gassen der kleinen Stadt mit ihren schmucken Fassaden, bunten Blumenkästen und lauschigen Cafés sind bevölkert mit Grüppchen von Jungwissenschaftlern aus aller Welt. "Es ist so schön, fast nicht real", sagt eine junge Frau aus Burkina Faso, die von der Horst-Köhler-Initiative "Partnerschaft mit Afrika" nach Lindau eingeladen wurde und mit dem früheren Bundespräsidenten an diesem Morgen frühstücken durfte. Der Politiker und Afrika-Kenner hatte ins Bistro Valentino eingeladen - das Lieblingslokal Thomas Gottschalks, wie die Lindauer wissen - und ließ sich von jedem einzelnen der 34 Nachwuchsforscher erzählen, welche Probleme und welche Ideen sie in ihren Ländern haben. "Schicken Sie mir eine Mail, wie ihre weitere Laufbahn verläuft", sagte er ihnen zum Abschied und lachte für die vielen Selfies, die nun in Afrika verbreitet werden.

65th Lindau Nobel Laureate Meeting,

Horst Köhler hat junge Forscher aus Afrika eingeladen. Der Kenainer Evans Kataka (rechts), macht seinen Doktor an der TU München.

(Foto: Christian Flemming)

Daniel Rutz hatte keine weite Anreise: Der Chemie-Doktorand von der Technischen Universität München stammt aus Lindau. Gerade kommt er von einem Vortrag des Amerikaners Eric Betzig. Der erhielt 2014 den Physik-Nobelpreis gemeinsam mit Stefan Hell und William Moerner für die Entwicklung hochauflösender Fluoreszensmikroskopie. "Das ist schon beeindruckend", sagt Rutz, "zu hören, wie diese Leute zu dem wurden, was sie sind."

Betzig erzählte im vollbesetzten Saal der Inselhalle, wie er als junger Mann fest an sein Genie glaubte, aber keine Institution fand, wo er seine Ideen verwirklichen konnte. Wie er dann alles hinwarf, Hausmann machte und Kinder hütete. Wie er sich in der väterlichen Fabrik erfolglos als Erfinder betätigte, schließlich mit einem Physiker-Freund auf Reisen ging - und plötzlich, nach acht Jahren Selbstfindung, die zündende Idee hatte. "Und dann zeigt er ein Bild von sich mit Buch am Swimmingpool und sagt: "Ich musste erst einmal wieder Physik lernen." Daniel Rutz lacht und staunt. Heute nutzt auch er die Betzigsche Mikroskopie für seine Protein-Forschung. Dass bei der 65. Lindauer Nobel-Tagung diesmal Vertreter verschiedener Fachrichtungen eingeladen sind, findet Rutz interessant. "Es ist wichtig, auch mal über den Tellerrand zu schauen, bei Fachkongressen geht es ja immer nur um Daten, Daten, Daten." In Lindau diskutieren sie noch bis Freitag über Viren und Gene, Elementarteilchen und Schwarze Löcher, über Karrierewege und ethische Verantwortung - ganz egal, woher sie kommen, ob aus dem Jemen, Russland oder den USA. Hier wächst die Welt zusammen.

Diesen Gedanken hatte auch der schwedische Adelige Lennart Bernadotte, Erbe der Insel Mainau, als er auf Anregung zweier Lindauer Ärzte 1951 zum ersten Mal sieben Nobelpreisträger nach Lindau eingeladen hatte. "Der Anfang der Lindauer Tagungen war auch ein Akt der Versöhnung Deutschlands mit der internationalen Wissenschaft", sagt Bert Sakmann, der damals acht Jahre alt war. Später hat er dann selbst erlebt, wie wichtig diese Erfahrung gerade für Wissenschaftler jüdischer Abstammung war. Sakmanns geschätzter Lehrer in London, der Neurophysiologe Bernard Katz, der vor den Nazis aus Leipzig hatte fliehen müssen, hat die Einladung nach Lindau als späte Anerkennung empfunden.

Sakmann, der gemeinsam mit Ernst Neher - die Lauscher an der Zellwand, die sich später den Nobelpreis teilten - am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen forschte, hat es immer wieder auf der Welt erfahren, wie Wissenschaftler Grenzen überwinden. "Wir haben lange, bevor in Russland die Perestroika kam, gespürt, dass es dort rumort", erinnert er sich. Manchmal musste man behutsam vorgehen, etwa beim Austausch zwischen israelischen und arabischen Wissenschaftlern - doch was in der Politik ein Tabu war, das war im Labor fast immer möglich. Deshalb geht es in Lindau zwar um Moleküle oder Methoden, vor allem aber auch um Netzwerke, die womöglich Bestand haben. In der Sommersonne sitzt die künftige Forscherelite beim Lunch und tauscht Visitenkarten aus.

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