Niederbayern:Wie kam die große Glocke in den Turm?

Kirche von Schildthurn, 2017

78 Meter hoch ist der Turm der Wallfahrtskirche Sankt Ägidius.

(Foto: Sebastian Beck)

Das ist das bis heute ungelöste Rätsel um Deutschlands höchsten Dorfkirchturm in Schildthurn.

Von Hans Kratzer, Schildthurn

Wie eine Festung ragt der höchste Dorfkirchturm von Deutschland in den Himmel, erhaben thront er auf einer Anhöhe im Hügelland zwischen Inn und Isar, an klaren Tagen ist er sogar im Salzburger Land noch gut zu sehen. Aber nicht einmal die wehrhafte Wallfahrtskirche von Schildthurn ist gegen Räuber und Ehrlose gefeit. Eines Tages in den Achtzigerjahren wunderte sich der Mesner über einen komischen Geruch im Altarraum, als ob jemand darin geraucht hätte.

Am Abend schloss er die Kirchentür ab, nicht ahnend, dass sich ein offenbar zigarettensüchtiger Dieb im Beichtstuhl versteckt hatte und sich einsperren ließ. Dann räumte der Gauner eine Wand voller alter Votivtafeln ab, sägte das Schloss der Kirchentür auf und verschwand mit seiner Beute in der Dunkelheit. Seither erinnern nur noch Fotografien an diese berührenden Zeugnisse der Volksfrömmigkeit, die einst aus Dankbarkeit für die Errettung aus höchster Not und Krankheit hierher gespendet worden waren. Jahrhundertelang hatte diese Tradition Bestand, dann bereitete ihr ein Dieb ein trauriges Ende.

Freilich, die Wallfahrtskirche von Schildthurn (Landkreis Rottal-Inn) hat in ihrer 800-jährigen Geschichte noch weitaus schlimmere Ereignisse überstanden, Kriege, Blitzeinschläge, Raubzüge. Umso kraftvoller harrt sie inmitten dieser Landschaft aus, die mit ihrer ruhigen Modulation einen Kontrapunkt setzt zu all den Verwüstungen, die der Fortschritt in anderen Teilen des Freistaats angerichtet hat. "Von oben hab ich schon 30 Kirchtürme erspäht", erzählt Martin Gottanka, der rührige Mesner, mit Blick auf den Horizont, wo sich gut sichtbar die Alpenkette in die Breite erstreckt. Der Blick reicht, wenn das Wetter passt, bis zur Spitze des Großvenedigers, davor das wellige Bauernland mit seinem Wechselspiel von bewaldeten Hügeln und frisch gemähten Wiesen.

Es ist eine gesegnete Landschaft, in der zwar die Zeit nicht stehen bleibt, die Schätze der Vergangenheit aber schon. Ist hier aber auch kein Wunder: "Die Turmmauern sind zwei Meter dick", sagt der 83-jährige Gottanka, der mit Kirche und Landschaft innerlich verwachsen zu sein scheint. "In München", sagt er, "da könnt ich ned leben!" In Schildthurn aber umgibt ihn fast das Paradies: Gottankas biologisch betriebener Bauernhof grenzt direkt an die Kirche an, dahinter ein Obstgarten und die Weide mit den Mutterkühen, deren Existenz er kurz und bündig so erklärt: "Die Kaibe saufen bei der Mutter, wie früher!"

Dass manchmal auch Pilger aufkreuzen, passt ins idyllische Bild. Früher war hier sogar die größte Wallfahrt im Bistum Passau, bis der Aufstieg von Altötting begann. Der mächtige Turm zeugt von der alten Größe und Herrlichkeit. Immer noch kommen Menschen mit Kinderwunsch hierher. Erst voriges Jahr, so erzählt der Mesner, seien zwei Französinnen dagewesen, und kürzlich habe er erfahren, dass beide im September entbunden haben. Sie hatten in Schildthurn, wie so viele vor ihnen, das Wiegenschutzen gepflegt. Paare schaukeln dabei eine hölzerne Wiege, in dem ein Fatschenkind liegt, was gegen Unfruchtbarkeit helfen soll. 30 kostbare Wiegen besaß die Kirche, aber in der Säkularisation wurden sie eingeschmolzen, nur eine aus dem Jahr 1868 blieb übrig. Mit ihrer Hilfe lebt der Brauch weiter fort.

Viele der 774 Pfarrkirchen, Filialkirchen, Nebenkirchen und Kapellen im Bistum Passau tragen ein Geheimnis mit sich, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ein Rätsel des 1531 vollendeten, 78 Meter hohen und visuell schwer beeindruckenden Schildthurner Kirchturms ist bis heute ungelöst.

Wie kam die große Glocke in den Turm? Es sind ja keine Öffnungen und Löcher an der Turmwand zu sehen. So präsentiert sich hier ein Meisterwerk alter Baukunst, unzerstörbar, unbeugbar, immun gegen Ideologien. 1937 konnte die 700-Jahrfeier nicht begangen werden, weil die Nazis es nicht erlaubten. Der Turm rächte sich auf seine Art. Als die Glocke für Kriegszwecke eingeschmolzen werden sollte, konnte sie nicht heruntergeholt werden, sagt Gottanka verschmitzt lächelnd. In diesen Tagen wird er 83 Jahre alt, sein Leben ist untrennbar mit dieser Kirche verknüpft. Mit einem gläubigen Urvertrauen kümmert er sich um das gotische Bauwerk und um die Besucher.

Manchmal strahlt die die Sonne genau auf die Altarmadonna

Um den mit Tuffstein verkleideten Turm kreisen ständig Dohlen, sie passieren dabei ein niederbayerisches und salzburgisches Wappen. Auch aus dem Salzburger Land kommen seit jeher Wallfahrer hierher. Etwa aus dem Ort Obertrum, wo 1650 die Pest wütete. Die Obertrumer gelobten damals, zu der entferntesten Kirche zu pilgern, die von ihrer Kaiserbuche aus zu sehen war. Alle hundert Jahre stifteten sie seither riesige Kerzen (1659, 1759, 1859, 1959) nach Schildthurn. Das sind unglaubliche Kontinuitäten. "Wenn die so treu weitermachen, dann bringen sie 2059 wieder eine Kerzn", sagt Mesner Gottanka.

Dieser Eifer funktioniert auch umgekehrt. Als Papst Leo XII. anno 1826 Reliquien von Katakombenheiligen anbot, machte sich eine Bäuerin aus Schildthurn mit ihrem Pferdewagen auf den Weg nach Rom. Nach der monatelangen Reise kehrte sie tatsächlich mit jenen zwei Leibern zurück, die heute, prächtig dekoriert, den Altarraum schmücken. An Kuriositäten herrscht dort wahrlich kein Mangel, und wer es darauf anlegt, kann an den Marienfesttagen sogar ein kleines Lichtwunder erleben. Wenn die Sonne nämlich in kurzen Momenten durch zwei Rundfenster genau auf die Altarmadonna strahlt. "Manchmal geschieht dies so unverhofft, dass die Gläubigen vor lauter Überraschung spontan zu beten beginnen", sagt Gottanka.

"Ganz umsonst is 's Beten nicht", davon ist er fest überzeugt, mag hier in Niederbayern zur Frömmigkeit immer auch eine Portion Schlitzohrigkeit gehören. Das belegt der hölzerne Sammler, ein Vorgängermodell des Klingelbeutels, auch dieses Relikt gehört immer noch zum Inventar der Sakristei. Wenn einst die Bauern das Opfergeld oben hinlegten und nicht in den Schub, dann musste der Mesner herausgeben. Bei einem reichen Bauern aber nahm er sich gerne das Recht heraus, den Sammler kurz und heftig zu bewegen, damit die Münze in den Schub fiel. "Dann hat der Bauer natürlich nix mehr zurückbekommen."

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