Neuhaus an der Pegnitz:Darf ein Land einer todkranken Mutter ihren Sohn wegnehmen?

Flüchtlingspolitik: Ein Armenier wird abgeschoben, obwohl seine sterbenskranke Mutter auf seine Hilfe angewiesen ist.

Die kranke Mutter von Ashot A., zu der er gern zurückkehren würde.

(Foto: Peter Roggenthin)
  • Ein 18-Jähriger wird nach Armenien abgeschoben, obwohl Mutter und Vater in Deutschland schwer erkrankt sind.
  • Der junge Mann ist der gesetzliche Betreuer seiner Mutter, doch wie seine Eltern war er nur geduldet.
  • Vieles deutet darauf hin, dass die Behörden wussten, wie es der Mutter geht - und ihn trotzdem abschieben ließen.

Von Andreas Glas, Neuhaus an der Pegnitz

Seine Stimme ist noch da. Aber nicht mehr seine Arme, die sie aus dem Bett heben. Nicht mehr seine Hand, die ihre streichelt, wenn sie sich fürchtet. Nur noch die Stimme. Sie kommt aus einem Smartphone auf ihrem Nachttisch. Die Stimme sagt: "Meine Mutter macht sich Sorgen, weil ich nicht mehr neben ihr bin."

Die Stimme gehört dem 18-jährigen Ashot. Seine Mutter hat Krebs. Wie lange sie noch lebt, weiß keiner. Aber sie wird sterben, der Krebs ist unheilbar. Vor zehn Jahren begann er in ihrem Kopf zu wuchern, zehn Jahre hat Ashot A. sich um seine Mutter gekümmert. Erst in Armenien, dann in Deutschland. Er hat sie gewaschen und gewickelt, zu Ärzten und Therapeuten begleitet, war ihr Übersetzer, hat ihre Behördentermine erledigt. Bis Mitte Januar die Polizei an seiner Zimmertür klopfte, ohne Vorwarnung, um vier Uhr nachts. Keine fünf Stunden später saß er in einem Abschiebeflieger nach Armenien. Er wird seine Mutter vielleicht nie wieder sehen.

Darf ein Land einer todkranken Mutter ihren Sohn wegnehmen? Das ist nur eine Frage, um die es in dieser Geschichte geht. Eine andere ist: Wann liegt ein Mensch im Sterben? Eine bizarre Frage. Aber eine, die man stellen muss, um die bayerische Abschiebepolitik zu verstehen.

Die Geschichte spielt in Neuhaus an der Pegnitz, Mittelfranken. In einer Asylunterkunft, die früher "Wolfsberg" hieß und eine Pension war. Die todkranke Frau heißt Gayane Z. Ihr Zimmer hat 15 Quadratmeter, in der Mitte parkt ein Rollstuhl, neben ihrem Bett liegen zwei Packungen Windeln. Sie liegt da, eingerollt in eine Decke, ihre linke Körperhälfte ist gelähmt. Eine junge Frau, 39, im Körper einer Achtzigjährigen. Wer ihre Hand drückt, drückt eine schlaffe Puppenhand. Ihr Leben reicht von der Bettkante bis zum Bad, das kaum größer ist als eine Telefonzelle. Wer wissen möchte, wie es ihr geht, muss in das Smartphone auf ihrem Nachttisch sprechen. Die Stimme übersetzt, aber Gayane Z. antwortet nicht. Sie weint nur.

Also, erste Frage: Darf ein Land einer todkranken Frau ihren Sohn wegnehmen? Die Zentrale Ausländerbehörde der Regierung von Mittelfranken sagt: Es gebe "Gegebenheiten, die unter bestimmten Umständen ein Abschiebungshindernis darstellen können". Doch sei der Behörde "nicht bekannt" gewesen, "dass die Mutter angeblich im Sterben liege".

Die Behörden wussten immer Bescheid

Stimmt nicht, sagt Ashot A. durch das Telefon auf dem Nachttisch seiner Mutter. "Alle Behörden haben es gewusst. Ich war so oft dort." Dass die Ämter den Zustand seiner Mutter kannten, legt auch das Gutachten eines Amtsarztes nahe. Es stammt aus dem September 2017. Darin heißt es: "Das Stadium des Tumors ist als nicht mehr kausal behandelbar anzusehen." Von einem fortschreitenden Krankheitsverlauf ist die Rede. Gayane Z. bekommt bereits palliative Therapien. Die Regierung von Mittelfranken kennt das Gutachten. Sie wusste, dass Gayane Z. unheilbar krank ist.

Doch weil "unheilbar" nicht dasselbe ist wie "im Sterben liegen", wurde Ashot A. abgeschoben? Man könnte das jedenfalls so verstehen. Deshalb, zweite Frage: Wann liegt ein Mensch im Sterben? Die Bezirksregierung antwortet: Das Gutachten habe keine Angaben zu "einem kurzfristig zu erwartenden Ableben der Mutter" enthalten. Wie die Behörde "kurzfristig" definiert, erklärt sie nicht. Nur soviel: "Ein ungewisses, in der Zukunft liegendes Ereignis, wie der Ausgang einer Erkrankung, stellt als solches kein Abschiebungshindernis dar."

Wegen Krankheit uneingeschränkt geduldet

Der Fall des Ashot A. und seiner kranken Mutter hält noch mehr Fragwürdigkeiten parat. Um sie zu verstehen, muss man zurückblättern in den Herbst 2014, als zunächst Gayane Z. in Deutschland Asyl beantragte und später auch ihr Mann Hovhannes A. "Weil die Medizin in Deutschland viel besser ist als in Armenien", sagt ihr Sohn. Ihre Asylanträge wurden abgelehnt, beide erhielten aber eine uneingeschränkte Duldung - wegen ihrer Krankheiten. Nicht nur Gayane Z. ist schwer krank, auch ihr Mann. Er hat eine chronische Leberkrankheit. Einige Monate nach seiner Mutter kam auch Ashot A. nach Deutschland, um Gayane Z. zu pflegen. Er beantragte Asyl. Er war damals minderjährig und bekam ebenfalls eine Duldung. Er wusste: Sobald er volljährig ist, droht ihm die Abschiebung.

Um die Abschiebung zu verhindern, beantragte er den Status als gesetzlicher Betreuer seiner Mutter. Am 29. September 2017 gab ein Amtsrichter dem Antrag statt. Ashot A. bekam einen Betreuerausweis, seine Duldung wurde bis 22. März 2018 verlängert. Weil eine Duldung kein Aufenthaltsrecht bedeutet, musste er weiterhin damit rechnen, abgeschoben zu werden. Trotzdem halten die Neuhauser Flüchtlingshelfer die Abschiebung für einen Skandal.

Sie habe geglaubt, dass "auch im strengen Bayern keine Menschen, die für enge Familienmitglieder nachgewiesener Weise sorgen müssen, abgeschoben werden", sagt Renate Lendl. Sie hat mit anderen Flüchtlingshelfern eine Online-Petition gestartet, die die Rückkehr des jungen Mannes fordert. Der Fall zeige, dass den Behörden "das Gefühl für Rechte und menschliches Einfühlungsvermögen" fehle, schreibt der Bayerische Flüchtlingsrat. Die Behörden sehen das anders. Die Abschiebung sei rechtens, weil mit dem Vater eine "adäquate Bezugsperson" für Gayane Z. da sei. Dass sein kranker Vater ihm bei der Pflege half, leugnet Ashot A. nicht. Er sagt aber auch: "Alleine schafft das nicht mal ein gesunder Mensch."

Als er auf dem Weg zum Flughafen war, stellte sein Anwalt einen Eilantrag gegen die Abschiebung. Doch der Richter urteilte, dass in der Asylunterkunft "der Vater des Antragstellers lebt und davon auszugehen ist, dass auch dieser Hilfeleistungen für die Mutter des Antragstellers erbringt". Das Gericht faxte diese Zeilen am 16. Januar um 8.17 Uhr an den Anwalt. Um 8.46 Uhr schickte Ferdinand Höllerer eine Nachricht auf Ashot A.s Handy. "Wo bist du gerade?" schrieb er. Um 8.53 Uhr bekam er als Antwort ein Foto, aufgenommen durch ein Flugzeugfenster.

Ferdinand Höllerer ist Rektor der Auerbacher Mittelschule, wo Ashot A. die Mittlere Reife machte, bevor er auf eine Fachoberschule wechselte, um das Fachabitur dranzuhängen. Ein guter Schüler, "in der Klasse super integriert", sagt Höllerer. Und das, obwohl er "immer mal wieder nicht da war, weil er mit seiner Mutter ins Krankenhaus musste". Dass der Vater fähig ist, sich allein um seine pflegebedürftige Frau zu kümmern, hält Höllerer für absurd. Auch, weil der Vater kaum Deutsch spricht. Noch absurder sei, dass die Behörden den Vater zu 60 Prozent für schwerbehindert erklärten und dessen Abschiebung deshalb für unzumutbar hielten - dem selben Mann aber plötzlich zutrauten, einer Frau zu helfen, die sogar zu 100 Prozent schwerbehindert ist.

Ein Verfahren nach Recht und Gesetz

Unmöglich, finden die Flüchtlingshelfer in Neuhaus - und haben es inzwischen geschafft, einen Platz in einem Pflegeheim für Gayane Z. zu finden. Die Behörden hätten zugesagt, das Heim zu bezahlen, sagt Ingrid Buchfelder, die sich um die Suche kümmerte. Dies dürfte den Steuerzahler teuer kommen. Bislang hatte Ashot A. den Job aus freien Stücken gemacht. Selbst wenn man "alles Menschliche außen vor lässt", sagt Ferdinand Höllerer, sei die Abschiebung daher falsch gewesen: "Wissen Sie, was ein Pflegeheim kostet?" Bei den Behörden spiele das "alles keine Rolle. Es geht nur darum, das Verfahren nach Recht und Gesetz durchzuziehen".

Ashot A. ist in Armenien bei seinen Großeltern untergekommen. Mithilfe eines Anwalts will er jetzt seine Rückkehr nach Deutschland erstreiten. Um seine Mutter kümmert er sich weiterhin, über das Smartphone auf dem Nachttisch. Er sagt, er telefoniere 30 Mal am Tag nach Deutschland. Wenn seine Mutter ins Krankenhaus muss, übersetzt er am Telefon für die Ärzte. Wenn sein Vater aufs Amt geht, übersetzt er am Telefon für die Behördenmitarbeiter. Und wenn sich seine Mutter fürchtet, spricht er ihr am Telefon Mut zu. Oder schweigt nur. Hauptsache sie weiß, dass er da ist. Irgendwie da.

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