"Neubayern"-Roman:In diesem Buch zeigt sich die gute alte Zeit dreckig und ungeschminkt

Neubayern

Das Buch firmiert vordergründig als Heimatroman, dessen Szenarien alle Klischees erfüllen: In Gebirgsdörfern herrschen bukolisch anmutende Lebensverhältnisse ohne Handy, Strom und Computer.

(Foto: Hirschkäfer Verlag)

Florian F. Scherzer hat mit "Neubayern" ein bemerkenswertes Romandebüt hingelegt. Darin entwirft er einen Roadtrip durch ein vertrautes Land, das im Laufe der Geschichte immer fremder wird.

Von Hans Kratzer

Henri Nannen, der langjährige Herausgeber der Zeitschrift Stern, ist zwar schon seit mehr als 20 Jahren tot, aber die von ihm formulierte Grundregel für den Einstieg in eine Reportage wird immer noch gerne zitiert. Im Übrigen kann sie jederzeit auch auf einen Roman übertragen werden: "Mit einem Erdbeben anfangen! Und dann langsam steigern!" Zugegeben, diese Vorgabe lässt sich nicht in jedem Fall mit Leichtigkeit umsetzen. Der Münchner Autor Florian F. Scherzer aber hat sich für seinen kürzlich erschienenen Debütroman "Neubayern" eine Einstiegsszenerie ausgedacht, die dem alten Nannen vermutlich gefallen hätte.

Er bringt, um seine Geschichte ins Laufen zu bringen, einen Dorfbuben ins Spiel, der sich gerne in den nahen Bergen herumtreibt. Eines Tages kehrt der Knabe von dort verstört und verängstigt zurück. Er erzählt einem Freund, er sei in den Bergen einem roten Teufel begegnet. Seine Verwirrung und sein komisches Verhalten lösen im Dorf Irritationen aus, und auch die Behörden reagieren höchst aufgeregt. Kurz darauf verschwindet der Bub spurlos. Zugegeben, das ist nicht der schlechteste Anfang für einen Roman. Welcher Leser würde ihn sogleich wieder weglegen?

Nur auf den ersten Blick wirkt alles heimelig

Auch im weiteren Verlauf gelingt es Scherzer weitgehend, die mysteriöse Geschichte mit Verve voranzutreiben. Dabei führt er die Leserschaft in einen Kosmos, der zumindest der bayerischen Klientel vertraut vorkommen muss. Das Buch firmiert vordergründig als Heimatroman, dessen Szenerien alle Klischees erfüllen: Die Handlung führt hinein ins bäuerliche 19. Jahrhundert, in Gebirgsdörfern herrschen bukolisch anmutende Lebensverhältnisse ohne Handy, Strom und Computer.

Das Land Neubayern wirkt aber nur auf den ersten Blick heimelig und vertraut. Schnell stellt sich heraus, dass die Idylle trügt, dass sie keineswegs den Charme des romantischen Heimatfilms der Nachkriegszeit atmet: Alles starrt vor Dreck, die Kindersterblichkeit ist hoch, die Arbeit ist zehrend, die Mahlzeiten sind kärglich. Scherzer schildert das Bauernleben ungeschminkt, die gute alte Zeit ist hier nur eine Schimäre. Er zeichnet die gesellschaftlichen Verhältnisse grob und ungeschönt, ähnlich wie es Oskar Maria Graf und Lena Christ in ihren Bayern-Romanen taten.

Florian F. Scherzer, 45, ist in Dachau aufgewachsen. Er kennt Land und Leute bestens, und er ist mit den bayerischen Quellen und der Literatur so vertraut, dass ihm dieser Fundus eine gute Inspiration bot. Einen Roman zu schreiben, davon träumte er seit Jahren. Schließlich fragte er sich: "Was mache ich mit der freien Stunde zwischen dem Abliefern der Tochter in der Schule und dem Beginn der Arbeit als Kreativdirektor in einer Münchner Werbeagentur? Kaffeetrinken oder die Geschichte aufschreiben, die mir schon lange im Kopf herumspukt?" Alsbald begab sich der Autor hoch motiviert auf die Reise nach Neubayern.

Neubayern

Manche ahnen, dass im Land Neubayern alles ganz anders ist. Abbildungen: Florian F. Scherzer

Die Landschaftsbilder benötigte er dabei nur als Vehikel, um die Leser auf eine Reise zu schicken, deren fantastischer Verlauf zunächst nicht erkennbar, ja sogar unvorstellbar ist. Das Geheimnis des Buchs soll hier nicht verraten werden, aber zumindest lässt sich sagen, dass Scherzer in seinem Roman über das alte Bayern so geschickt mit Klischees und Weltbildern spielt, dass er auf verblüffende Weise existenzielle Fragen der Moderne berührt. Ein ungewöhnlicher Plot ist ihm da gelungen, der Phänomene wie Globalisierung, Fake News, Separatismus und soziale Medien mit der vorindustriellen Welt verknüpft und dadurch ihre Problematik mit scharfen Konturen nachbildet.

Warum aber liegt der Fokus im Roman auf Bayern, wenn es doch um globale Probleme geht? "Ich kenn halt nix anderes", sagt Scherzer, der auf solch schlichte Fragen gerne ironisch reagiert und auf die reiche Tradition von Komödienstadeln und Regionalkrimis verweist. Dieses literarische Gebrauchssortiment aber hatte er gewiss nicht vor Augen, als er mit dem Schreiben begann. Scherzer ist ein Universalist, er studierte zuerst Geschichte in Bamberg, danach Grafikdesign. Heute lebt er, nach Stationen in Israel, Paris und Hamburg mit seiner Familie in München.

Was wäre, wenn Heimat eine Lüge ist?

Gerade weil er das Bayernland und seine Abgründe so gut kennt, stellt ihn die gängige heimische Literatur nicht zufrieden: "Zu viel Innensicht", sagt er, ihm fehlt ganz einfach die Opulenz, wie man sie in der angelsächsischen Autorenszene pflegt. "Eine Erzählung mit einer großen Geschichte zu verbinden, das ist dort üblich und das war auch meine Intention." Und wo sollte das besser funktionieren als in Bayern, wo die Wurzeln der deutschen Literatur überhaupt liegen. 1200 Jahre alte Texte von Weltrang schmücken hier die Landestradition, sei es das Wessobrunner Gebet oder die kraftvolle Beschreibung des frühen Bayern aus der Feder des Arbeo.

Vor diesem Hintergrund braucht ein Autor eigentlich nur Fragen zu stellen, wie es neulich die Zeitschrift MUH getan hat, um daraus eine fantastische Geschichte zu spinnen: Was wäre, wenn Heimat eine Lüge ist? Was wäre, wenn es die vermeintlich gute alte Zeit noch gäbe? Was wäre, wenn die größtmögliche Strafe hieße, weg nach München zu müssen? Und was wäre gar, wenn sich das wohlvertraute und mächtige Bayern am Ende als gewaltige, ja sogar als endzeitliche Lüge entpuppt?

Die Geschichte von Neubayern habe ihn jahrelang beschäftigt, sagt Scherzer. Die Visionen, die in ihm herumschwirrten, regten ihn deshalb nicht nur schreiberisch an. Auch die kongenialen Illustrationen und das dem Buch beigelegte Heftchen mit weiteren Illus, Karten, Fotos und Zeitdokumenten stammen von ihm - quasi Ehrensache für einen Grafikdesigner, der die erdachte Welt auch bildlich formen kann. In der Literatur gibt es ein prägendes Pendant zu Neubayern, das Scherzer natürlich kennt. Es handelt sich um Alfred Kubins Roman "Die andere Seite" von 1908, in dem der Protagonist in ein von Menschenhand geschaffenes Traumreich im fernen Asien reist. Bis sich die Faszination immer stärker zu einer gnadenlosen Horrorvision steigert, bis hin zum apokalyptischen Niedergang des Traumreichs.

Neubayern

Im düsteren Land Neubayern verharren die Menschen im 19. Jahrhundert.

(Foto: Hirschkäfer Verlag)

Auch der amerikanische Mystery-Thriller "The Village - Das Dorf" aus dem Jahr 2004 habe ihn beeinflusst, sagt der Schriftsteller. Der Film thematisiert das Leben im Dorf Covington, das von einem Wald umgeben ist, in dem bösartige Kreaturen leben. Geheimnisvolle, Angst einflößende Wesen treiben sich auch in Scherzers Neubayern herum. Dort begibt sich der Dorffischer Joseph Kiener auf die Suche nach dem verschwundenen Buben, der den Teufel gesehen hat. Der Autor entwickelt quasi einen 19. Jahrhundert-Roadtrip durch ein eigentlich vertrautes Land, das im Laufe der Geschichte immer fremder wirkt. Er begegnet seltsamen Menschen, merkwürdigen Bräuchen, sonderbaren Sagengestalten, und nicht zuletzt der Angst und der Wahrheit. Erst ab der Hälfte des Buchs merkt der Leser, dass nichts so ist, wie es die Geschichte anfangs vermutet ließ. Das alte und das neue Bayern treiben aufeinander zu, so ähnlich wie im Urwald, wenn indigene Völker plötzlich auf Eindringliche aus der modernen Zivilisation treffen.

"Kolonialgeschichten fand ich immer schon faszinierend", sagt Scherzer. Es ist ein zu wenig beachtetes Phänomen, dass sich auch viele Bayern seit jeher auf den Weg machten und in die Welt hinaus drängten, sei es als Kreuzfahrer oder, wie der Straubinger Ulrich Schmidl, als Conquistador, der in Südamerika vor 500 Jahren mit den Spaniern das Land durchstreifte und dabei die Weltstädte Buenos Aires und Asunción mitgegründet hat.

Scherzers Buch beweist aufs Beste, dass es keine schlechte Idee ist, einen über das Genre schlichter Heimatkrimis hinausreichenden Roman über Bayern zu schreiben, mag die Literaturszene darüber auch in gewohnter Manier die Nase rümpfen. Diese Erfahrung hat auch Scherzer gemacht. Erstaunlicherweise obwaltet in der Literatur und in den Medien wie eh und je der zähe Nord-Süd-Konflikt, der oft mit einem grandiosen Unterschätzen des Potenzials einhergeht. Scherzers Roman zeigt zumindest, dass die bayerische Provinz nicht nur für Rita-Falk-Krimis taugt.

Florian F. Scherzer, Neubayern, Hirschkäfer Verlag, mit Illustrationen des Autors, 18,90 Euro.

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