Nationalsozialismus:Wo Hitler sich an jedem Tag seines Lebens aufgehalten hat

Adolf Hitler fährt zum Reichsparteitag 1934

Nürnberg, 4. September 1934: Adolf Hitler, im vordersten Wagen rechts, auf dem Weg zum Reichsparteitag. Der Diktator war häufig in Nürnberg.

(Foto: Scherl/SZ-Photo)

Das wollte der Informatiker Harald Sandner herausfinden. Manche Stadt muss nun ihre NS-Geschichte umschreiben.

Interview von Olaf Przybilla, Coburg

Mehr als 20 Jahre lang hat Harald Sandner, 55, in Archiven geforscht, im Frühjahr soll das Werk in vier Bänden mit nahezu 2500 Seiten erscheinen: "Hitler - Das Itinerar" sammelt Fakten zu jedem Tag im Leben Adolf Hitlers. Der Autor versteht sein Werk auch als Gedächtnisstütze.

SZ: Herr Sandner, wie kommt man auf so eine Arbeit?

Harald Sandner: Am Anfang stand der Ärger, beziehungsweise Verwunderung. In Coburg wurde noch vor nicht allzu langer Zeit kolportiert, Hitler sei nur dreimal dort gewesen. Das stimmt einfach nicht. Alles, was mit Coburg zu tun hatte, war für Hitler Chefsache. Hier war er schon 1922 mit SA-Männern durch die Stadt paradiert. Hier errang die Partei später erstmals in einer Wahl die absolute Mehrheit der Mandate. Das war 1929, also vier Jahre vor der sogenannten Machtergreifung. Der "Marsch auf Coburg" von 1922 wurde zum nationalsozialistischen Mythos. Je nach Zählart war Hitler mindestens 14-mal in Coburg. Zählt man die Durchfahrten mit, waren es sogar 40-mal.

Gewiss keine Tatsache, nach der man sich nach dem Krieg gesehnt hätte.

Sicherlich nicht, nein. Coburg nannte sich im Dritten Reich "Erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands". Hitler wurde dort schon 1932 Ehrenbürger, etwa ein Jahr vor seiner Ernennung zum Reichskanzler. Man wollte davon nach dem Krieg möglichst nicht mehr viel wissen. Aber was das betrifft, ist die Stadt Coburg nur ein Beispiel unter vielen in Deutschland. Mir ging es von Anfang an darum, Märchen aus der Welt zu schaffen. Kürzlich erst gab es im Fernsehen eine aufwendig gemachte Dokumentation zu sehen über das Berliner Nobelhotel Adlon. Mit einem vermeintlichen Detail, was die Geschichte dieses Hauses während der NS-Zeit betrifft.

Nämlich?

Angeblich sei Hitler dort nie gewesen, hieß es. Angeblich sei das Haus gewissermaßen für Hitler viel zu liberal und weltoffen gewesen. Meine Recherchen dokumentieren das Gegenteil: Zweimal war Hitler dort zu Gast, einmal auch als Reichskanzler. Von dem Besuch existiert sogar ein Foto.

Die vier Bände bieten also auch eine Art Gedächtnisstütze?

So könnte man das sehen, ja, als Gedächtnisstütze. Und wohlgemerkt: Diese hatte man ja nicht nur in Coburg nötig. Auch etwa in Hamburg ging lange die Mär, Hitler habe diese Stadt gemieden, aus einer Abneigung heraus gegen die Kaufleute und die Lebensart in der Hansestadt. Auch das kann man eindeutig widerlegen.

Sie nennen Ihr Werk "Itinerar". In der Geschichtswissenschaft bezeichnet man damit die Dokumentation einzelner Orte, in denen sich die deutschen Könige auf ihrem Zug durchs Reich aufhielten.

Daran lehnt sich diese Bezeichnung an, ja. Für das Mittelalter sind solche Aufzeichnungen wichtig, um zu erfahren, ob etwa ein Dokument echt ist. Meiner Auffassung nach ist es aber auch für die NS-Zeit von hoher Bedeutung, denn das Machtzentrum zunächst der NSDAP, später von ganz Nazi-Deutschland, war jeweils dort, wo Hitler sich aufgehalten hat. Für mich ist dies ein wesentliches Kennzeichen totaler Herrschaft. Insofern ist es enorm wichtig zu wissen, wo genau sich der Diktator aufhielt. Abgesehen davon, dass es eben hilft, das Gedächtnis einzelner Orte aufzufrischen. Auch über Berlin gibt es ja die Legende, Hitler sei dort nur selten und widerwillig gewesen. Die Wahrheit ist: Er war dort häufiger als auf dem Obersalzberg.

Fürchten Sie nicht die Gefahr, mit dem Begriff "Itinerar" auch braune Käufer anzulocken? Hitler in der Nachfolge der deutschen Reisekönige?

Ich kann nicht vollends ausschließen, dass auch Neonazis einen Blick hineinwerfen. Das kann man aber auch bei den bisher 80 erschienenen Hitler-Biografien nicht. Dass Nazis mein Werk kaufen werden, glaube ich nicht. Einen Nutzen würden sie jedenfalls nicht ziehen daraus. Außerdem soll das Werk, wenn es im Frühjahr erscheint, knapp 400 Euro kosten. Forschungseinrichtungen, für die es als Handbuch primär gedacht ist, dürften das bezahlen können.

Es geht um mehr als 20 000 Lebenstage.

Eine Dokumentation von der Geburt bis zur Vernichtung der Leiche Hitlers, das ist der Anspruch, richtig. 2200 Bilder werden in den vier Bänden zu sehen sein, zwei Drittel davon sind noch nicht veröffentlicht. Es war immer schon eine Frage, die mich bewegt hat: Wie ist da einer Schritt für Schritt vom Obdachlosen zum meistverehrten und meistverhassten Mann der Weltgeschichte geworden? Wie genau hat man sich das vorzustellen?

Sie arbeiten hauptberuflich als Informatiker. Wie füllt man da nebenher 2500 Dokumentationsseiten?

Das geht nur im Urlaub und an den Wochenenden. Aber ich habe ja nun auch 20 Jahre damit zugebracht. Und mir war immer klar: Wenn ich damit beginne, dann will ich das auch zu Ende bringen.

Urlaub in Archiven. Haben Sie Familie?

Meine Lebensgefährtin macht das mit, ja, sie begleitet mich, wenn es irgendwie geht, auch in die Archive im Ausland. So sind einige zehntausend Kilometer zusammengekommen. Sie war auch mit im ehemaligen Führer-Hauptquartier Wolfsschanze.

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