Interview mit Sozialpädagogin:"Frauen entschließen sich nicht, ihr Kind zu töten"

Was bringt Mütter dazu, ihr Baby kurz nach der Geburt zu töten? Beraterin Eva Zattler erklärt, warum die Betroffenen im Affekt handeln, und wie Frauen in Notlagen ihre Schwangerschaft verdrängen.

Von Karoline Meta Beisel

Am vergangenen Dienstag wurde in München auf der Toilette eines Zuges ein totes Neugeborenes entdeckt. Mittlerweile hat die Polizei die Mutter in Wien festgenommen. Die Rechtsmediziner gehen davon aus, dass es lebendig zur Welt kam und danach getötet wurde. Die SZ sprach mit Eva Zattler, Beraterin bei Pro Familia, über Hilfen für Schwangere und Mütter in seelischen Notlagen.

SZ: Im jüngsten Fall deutet alles auf die Mutter als Täterin hin. Was geht in einer Frau vor, die sich entschließt, ihr eigenes Kind zu töten?

Eva Zattler: Diese Frauen entschließen sich nicht, ihr Kind zu töten. Das ist eine Affekthandlung, ganz ähnlich wie bei einer Psychose.

Ein Affekt? Das Kind kommt doch nicht überraschend, die Frau weiß ja, dass sie schwanger ist.

In diesen Fällen oft nicht. Viele Frauen, die ihr Kind töten, haben vorher ihre Schwangerschaft verdrängt, alle Zeichen ignoriert. Sie verweigern sich einfach dieser Realität und schieben jeden Gedanken an eine mögliche Schwangerschaft weg. Und wenn das Kind dann geboren wird, ganz real aus dem Körper herauskommt, dann geraten diese Frauen in Panik. Manche begreifen das Neugeborene sogar als etwas Bedrohliches. Und dann kann es zu so einer Reaktion kommen. Es ist eine krasse seelische Notsituation für die Frau.

Wird diese Notlage auch im Strafprozess berücksichtigt?

Ja. Es gibt Fälle, in denen die Gerichte feststellen, dass die Frau nicht schuldfähig ist. In Österreich gibt es sogar ein eigenes Gesetz dazu: Dort werden Mütter, die ihr Kind bei oder unmittelbar nach der Geburt töten, von vorneherein weniger bestraft als andere Täter.

Wie oft kommen solche Kindstötungen vor?

Zum Glück selten. Aber die verdrängten Schwangerschaften gibt es häufiger, also Fälle, in denen werdende Mütter erst sehr spät merken, dass sie schwanger sind. Das ist für Mutter und Kind aber auch schon gefährlich.

Warum?

Für die Mütter deshalb, weil sie von der feststehenden Tatsache der nahen Geburt dann häufig überwältigt werden. Sie haben nur noch wenig Zeit, sich auf die Geburt und die neue Lebenssituation einzustellen. Auch fehlt die Schwangerenvorsorge beim Arzt. Und damit auch die ganz normalen Untersuchungen des ungeborenen Kindes.

Was für Gründe gibt es für dieses Verdrängen?

Die Frauen sind oft in einer seelischen Zwangslage. Manche sind Opfer sexuellen Missbrauchs. Andere haben Angst davor, wie ihre Umwelt auf die Schwangerschaft reagieren könnte oder werden von ihrem Partner unter Druck gesetzt. Bei Frauen mit einem glücklichen Leben kommt das kaum vor, das ist klar.

Geht das überhaupt, eine Schwangerschaft, von der niemand etwas bemerkt?

In Ostdeutschland gab es sogar mal einen Fall, in dem die Mutter mehrere Kinder zur Welt brachte und tötete, da hat nicht mal der Ehemann etwas davon gewusst. Das Umfeld versagt in diesen Fällen doppelt: Zum einen, weil keiner etwas merkt, und zum anderen, weil die Frau niemanden hat, mit dem sie reden kann.

Welche Möglichkeiten hat eine Frau kurz vor der Geburt, die ihr Kind nicht behalten möchte?

Sie sollte auf jeden Fall zu einer Beratungsstelle gehen. Davon gibt es viele, und auch viele verschiedene Träger. Dort wird ihr schnell und fachkundig geholfen. Dann kann sie sich gemeinsam mit den Beraterinnen überlegen, wie es weitergehen soll: Sie könnte das Kind zum Beispiel zur Adoption freigeben. Und seit diesem Monat gilt das neue Gesetz über die vertrauliche Geburt.

Was steht da drin?

Das Gesetz erlaubt der Schwangeren, ihr Kind in einer sicheren Umgebung und mit medizinischer Betreuung zur Welt zu bringen, und sie muss auch nichts dafür bezahlen. Das Wichtigste ist aber, dass sie ihren wahren Namen nicht verraten muss. Den erfährt nur das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Das Kind kann ihn nach 16 Jahren erfragen.

Aber richtig anonym ist die Geburt dann ja auch nicht.

Es kommt drauf an. Das Gesetz sieht Ausnahmen vor, wenn die Mutter auch nach 16 Jahren nicht in der Lage ist, ihre Identität offenzulegen. Aber der Normalfall ist, dass die Daten nach 16 Jahren weitergegeben werden - wenn das Kind es möchte. So wird das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung gewahrt, das ist in der Menschenrechtskonvention festgeschrieben.

Und was ist mit den Babyklappen?

Die gibt es weiterhin, jedenfalls noch für eine Weile. Eigentlich soll die vertrauliche Geburt auf lange Frist die Klappen ablösen, denn die sind rechtlich in einer Grauzone. Außerdem ist den Frauen damit noch nicht geholfen, sie müssen ja auch medizinisch versorgt werden. Aber das Gesetz ist noch ganz neu. Es gibt noch gar keine Erfahrungswerte, wie sich die neue Regel auswirkt. Das muss man erst einmal abwarten.

Haben Babyklappen dazu geführt, dass weniger Neugeborene getötet werden?

Nein. Frauen, die ihr Kind töten, sind wie gesagt in so einem schwierigen seelischen Zustand, dass sie sich keine vernünftigen Gedanken um das Kind machen. Welche Frauen Babyklappen nutzen, kann man wiederum nicht wissen, weil sie unbekannt bleiben. Zum Beispiel könnten das auch Frauen sein, die sich illegal in Deutschland aufhalten und wenigstens für ihr Kind ein besseres Leben haben wollen. Wobei das eigentlich auch nicht der richtige Ansatz ist. Es wäre viel besser, wenn man es schaffen würde, beiden, der Frau und dem Kind gemeinsam, ein gutes Leben zu ermöglichen.

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