Nach dem Amok-Alarm in Memmingen:"Es war ein Hilferuf"

Nach dem Amok-Alarm in Memmingen suchen Staatsanwaltschaft, Eltern und Lehrer nach den Motiven des Achtklässlers. Ob der 14-Jährige den ersten Schuss absichtlich abgab oder sich dieser löste, ist noch nicht klar. Vor dem Ermittlungsrichter verweigert der Junge die Aussage.

Stefan Mayr und Cornelius Pollmer

Am Tag nach dem Amok-Alarm in Memmingen herrscht sowohl an der Lindenschule als auch auf dem Sportgelände des SV Steinheim weiterhin Ausnahmezustand. Die Gefahr ist zwar vorbei, aber der Schrecken ist immer noch deutlich greifbar: Vor der Schule warten mehrere Kamerateams, in der Aula stehen ein Dutzend Krisenseelsorger und Notfallpsychologen und beraten sich. Auf dem einige Kilometer entfernten Sportplatz fotografieren drei Kriminalpolizisten die Einschüsse in der Mauer des Sportheims. Am Tresen steht Wirtin Karin Grüner und erzählt von den Geschehnissen, die sich am Dienstagabend vor ihrer Tür abgespielt haben.

"Eine Pistole hat er sich an den Kopf gehalten, mit der anderen Hand hat er herumgeballert", sagt die 63-Jährige. Erst im Januar hat sie die Gaststube übernommen - am Dienstag wurde sie plötzlich zur Betreuerin von 30 Kindern, von denen einige Todesangst hatten. Schon auf dem Weg zur Wirtschaft war ihr der 14-Jährige aufgefallen, weil er in einer halboffenen Holzhütte herumlag.

Sogleich hatte sie den Verdacht, dass er jener Schüler sein könnte, der kurz zuvor in der Lindenschule mit Pistolen herumgefuchtelt und einen Schuss in die Decke abgegeben hatte. Sie schickte einen Trainer zu dem Jugendlichen. Der fragte den Buben betont locker: "Na, alles klar?" Er sah, dass der Junge weinte und verzweifelt war. Spätestens, als er rief "Verschwinde endlich!", war ihm klar: Er ist es.

Die Wirtin rief die Polizei und brachte zusammen mit den Trainern alle Fußballer im Alter von sechs bis elf Jahren in den Keller. Dort, in einem fensterlosen Gang kauerten die etwa 30 Kinder stundenlang. Immer wieder hörten sie Schüsse. Fünf Kugeln schlugen in die Bandenwerbung des Fußballplatzes ein. Drei Geschosse landeten in der Außenwand des Sportheims. "Der hat ungefähr hundert Mal geschossen", sagt Karin Grüner.

Die Staatsanwaltschaft Memmingen berichtet später, der Junge habe "eine großkalibrige Pistole, eine kleinkalibrige Pistole, eine Luftdruckpistole sowie zugehörige Munition" bei sich gehabt. Einige Schüsse schlugen auch in "mehreren Streifenfahrzeugen" ein. Ob der Schüler gezielt auf Menschen zielte? Diese Frage lassen die Ermittler offen.

"Noch nicht vernehmungsfähig"

Ein Verhandlungsteam der Polizei nahm Kontakt mit dem 14-Jährigen auf und überredete ihn schließlich, die Waffen niederzulegen. Gegen 20.15 Uhr nahmen Beamte eines Spezialeinsatzkommandos den Schüler fest und brachten ihn in eine jugendpsychiatrische Einrichtung. "Er ist aufgrund der Auswirkungen der Drucksituation noch nicht vernehmungsfähig", berichtet Johann Kreuzpointner, der Leiter der Staatsanwaltschaft Memmingen. Deshalb könne er noch keine Angaben zum Motiv des Achtklässlers machen.

Medienberichten zufolge habe er aus Liebeskummer zu den Waffen gegriffen, weil seine Freundin am Tag zuvor Schluss gemacht hatte. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung hatte der Achtklässler im Schulhaus auf einen Lehrer gezielt. Als dieser sagte "Mach's nicht", ließ er die Waffe sinken und gab einen Schuss in den Boden ab.

Ob er absichtlich schoss oder sich der Schuss nur löste, ist noch nicht klar. Dann flüchtete der Jugendliche. Die Polizei sicherte die Schule weiträumig ab und fahndete nach ihm mit einem Großaufgebot.

Schüler verweigert Aussage

Nach Angaben der Polizei hat der Schüler die Waffen aus dem Tresorraum seines Vaters entnommen. Der langjährige Sportschütze habe die Waffen und die Munition rechtmäßig besessen und diese auch ordnungsgemäß in einem gesicherten Raum aufbewahrt. Hinweise auf ein Fehlverhalten des Vaters gebe es nicht, so Kreuzpointner.

Rektor Franz Schneider bezeichnet den 14-Jährigen als "ganz normalen, unauffälligen und von mir geschätzten Schüler". Schneider zeigt sich "gottfroh", dass dem Jungen nichts zustieß. "Es war ein Hilferuf, wenn auch mit falschen Mitteln."

In der Grund- und Mittelschule führen die Lehrer am Tag nach dem Amokalarm mit Unterstützung der Krisenbetreuer ausführliche Gespräche mit ihren Schülern. Am Dienstag hatten sich die Klassen zwei Stunden lang in ihren Klassenzimmern verbarrikadiert. "Wir sind in die Ecke gegangen und haben versucht, Spiele zu machen", berichtet Lehrerin Angela Brunner. Erst nach 15 Uhr wurde die Schule evakuiert.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann lobt sowohl die Schule als auch die Polizei: Alle Beteiligten hätten sich "vorbildlich verhalten", sagte er . Seinen Angaben zufolge habe der Täter "wohl in erster Linie, so sieht es jetzt aus, Selbstmordabsichten gehabt". Die neuen Notfallpläne seien "ganz konkret umgesetzt worden".

Anlass zu Verschärfungen im Waffenrecht oder der zentralen Lagerung von Sportgewehren sieht der Minister nicht. Wohl aber Bedarf für jeden Waffenbesitzer, sein Verhalten zu überprüfen. Vermutlich habe sich der Schüler den Code des Tresors besorgt. Das Problem sei, dass viele bei Geheimcodes "gegenüber der eigenen Familie doch zu leichtsinnig sind", sagt Herrmann: "Es muss wirklich jeder diese Sorgfaltspflicht sehr sehr ernst nehmen."

Als der Schüler am Mittwochnachmittag dem Ermittlungsrichter vorgeführt wird, verweigert er die Aussage. Der Ermittlungsrichter erlässt einen Unterbringungsbefehl, der Beschuldigte wird in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert.

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