Medizin und Inklusion:Blockierte Wege zum Arzt

Behinderte Frauen suchen oft vergeblich barrierefreie Praxen

Für Sarah Stumpe ist es ein Segen: Sie lebt in Erlangen, wo es eine von bundesweit fünf gynäkologischen Spezialambulanzen für behinderte Frauen gibt. Routiniert steuert die 19-Jährige ihren elektronischen Rollstuhl neben den Untersuchungsstuhl ihrer Frauenärztin. Ihr Assistent wird sie gleich auskleiden und umheben, denn die Studentin kann aufgrund einer Muskelschwunderkrankung lediglich ihre Arme selbst bewegen.

Viele andere Frauen mit schwerer Behinderung suchen dagegen vergeblich einen Arzt. "Das Thema barrierefreie Arztpraxen ist grundsätzlich ganz schwierig", sagt Nicole Lassal. Als Geschäftsführerin der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe kennt Lassal all die Barrieren, die vielen betroffenen Frauen zu schaffen machen. "Gerade für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen ist es oft nicht möglich, einen Arzt aufzusuchen", sagt sie . Stufen vor dem Gebäude, Treppenhäuser ohne Aufzug, fehlende Behindertentoiletten seien nur einige der Hemmnisse, die einen Arztbesuch erschweren. Bei einem Großteil der Frauenärzte komme hinzu, dass die Untersuchungsräume oft sehr eng seien.

Zudem, so gibt Lassal zu bedenken, sei der gynäkologische Stuhl für viele schwerst behinderte Frauen ohne Hebelift gar nicht erst zu erklimmen. "Hinzu kommt, dass viele Ärzte überfordert sind", sagt sie. Das Thema Behinderung spiele in der medizinischen Ausbildung so gut wie keine Rolle, kritisiert auch Ute Strittmatter, die Leiterin des Netzwerkes von und für Frauen und Mädchen mit Behinderung in Bayern.

Die 50-Jährige hat selbst lange Zeit vergeblich nach geeigneten Praxen gesucht. Und beschlossen: So kann es nicht bleiben. Unterstützt von der Chefärztin Gerlinde Debus setzten die Netzwerkfrauen alle Hebel in Bewegung, um am Klinikum Dachau eine Spezialambulanz für behinderte Frauen auf die Beine zu stellen. "Es ist einfach nicht in jeder Praxis möglich, Frauen mit schwersten Körperbehinderungen zu versorgen", begründet Debus ihr Engagement. Landesweit gesehen, ist ihre Bilanz aber ernüchternd: Viele Frauen mit Behinderung blieben gynäkologisch unversorgt, obgleich sich in Bayern 150 Frauenarzt-Praxen selbst als rollstuhlgerecht einstufen. Doch im Freistaat leben mehr als 547 000 körperlich schwer behinderte Frauen. Zwar sitzen bei weitem nicht alle von ihnen im Rollstuhl. Dennoch ist Debus klar, dass es an Angeboten mangelt: "Es wäre sinnvoll, wenn ein richtig flächendeckendes Netz gezogen wäre." Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) geht mit dieser Forderung konform: "Ich würde mir wünschen, dass im Lichte eines Paradigmenwechsels hin zur Inklusion noch mehr Angebote im Gesundheitsbereich barrierefrei nutzbar werden."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: