Literatur aus der Provinz:Der Buchmacher

Literatur aus der Provinz: Die Frage "Sein oder nicht sein" hat sich der Verleger Norbert Treuheit oft gestellt. Zum Beispiel als fast alle Shakespeare-Bände verbrannten.

Die Frage "Sein oder nicht sein" hat sich der Verleger Norbert Treuheit oft gestellt. Zum Beispiel als fast alle Shakespeare-Bände verbrannten.

(Foto: Peter Roggenthin)

Vor 27 Jahren zieht Norbert Treuheit aus der Verlagsstadt München ins fränkische Cadolzburg und gründet "Ars vivendi". Ausgerechnet dieser Kleinverlag aus dem literarischen Nirgendwo will den gesamten Shakespeare neu übersetzen? Die Geschichte eines Wagnisses.

Von Olaf Przybilla, Cadolzburg

In ein paar Wochen soll Heinrich VIII. erscheinen, eine zweisprachige Ausgabe mit Anmerkungen, einem Bericht aus der Übersetzerwerkstatt und einführendem Essay. Wenn es so weit ist, spätestens im Mai, werden dann sämtliche großen Dramen der neuen Shakespeare-Gesamtausgabe vorliegen, es fehlen nur noch die Sonette und ein paar eher entlegene Werke. Auf 39 Feinleinenbände ist diese neue Ausgabe angelegt, verantwortlich zeichnet Frank Günther, der als maßgeblicher Shakespeare-Übersetzter unserer Zeit gilt. Ein literarisches Ereignis, und das nicht nur, wenn man bedenkt, dass die bislang kanonische Shakespeare-Übertragung von Schlegel & Tieck stammt. Eine epochale Arbeit, aber eben eine aus dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, vorgelegt von Romantikern.

Diese neue Übersetzung, deren bisher erschienene Bände für Lobreden in nahezu allen Feuilletons der Republik gesorgt haben, erscheint in Franken, genauer gesagt in Cadolzburg. "Ars Vivendi" heißt der Verlag, beheimatet in zwei schmalen Fachwerkhäusern mit Blick auf die Burg, den Gemeindesee, etliche Enten und einen Schwan. Ein wunderbarer Ort, nicht aber einer, an dem man ein Projekt dieses Ausmaßes erwarten würde. Für die Gesamtausgabe werden Connaisseure am Ende einen vierstelligen Betrag lockermachen müssen, da kann man sich ungefähr ausrechnen, wie überschaubar der Kreis derer sein dürfte, die das wollen und auch noch können. Auf der anderen Seite ist eine solche Ausgabe kaum zu realisieren, ohne dass ein Verlag einen mittleren sechsstelligen Betrag investiert. Neun Festangestellte hat "Ars Vivendi", kann man das als Verleger überhaupt verantworten?

Norbert Treuheit wird das nicht zum ersten Mal gefragt, in der Branche hört er die Sorge öfter. Auf der anderen Seite, sagt er, ist es eben nicht sein erster verlegerischer Schritt, den sie in der Branche für, gelinde gesagt, mutig erklärt haben. Vor 27 Jahren hat Treuheit seinen Verlag in der Provinz gegründet, begleitet von den allerbesten Wünschen aus München. Von dort also, wo er das Verlagswesen gelernt und studiert hat. München galt zu der Zeit als zweitgrößte Verlagsstadt der Welt und natürlich schien es da nahe zu liegen, in einem der etablierten Häuser Karriere zu machen, wo auch immer.

Die jungen Enthusiasten kommen in seinen Verlag, und wandern ab.

In Franken, einer Region mit mehr als vier Millionen Einwohnern, gab es zu der Zeit keinen einzigen wirklich nennenswerten literarischen Verlag. In der Buchbranche geht es wie in kaum einer anderen darum, wahrgenommen zu werden, und weil die mediale Szene in Cadolzburg überschaubar ist und damals schon überschaubar war, ahnten die Kollegen, was Treuheit erwartet.

Warum er es trotzdem gemacht hat? Bauchentscheidung, sagt Treuheit. Wer nach Cadolzburg geht, um dort Bücher zu machen, der will genau dies: Bücher machen, egal wo. Es kommen also die Enthusiasten in seinen Verlag, oft die jungen Enthusiasten. Und dass sie wieder gehen gelegentlich, und nicht selten zu den großen Verlagen, das weiß Treuheit, seit er in Cadolzburg ist. Das ist wie beim SC Freiburg, wie bei einem sogenannten Ausbildungsverein. Hat er Existenzängste? "Sehr oft", sagt Treuheit. Im Grunde aber kenne er das nicht anders als Verleger: "Trotzdem würde ich es wieder so machen, es gibt keinen schöneren Beruf für mich."

Shakespeare in Flammen

Einmal, ziemlich genau vor zwei Jahren, hat er doch an allem gezweifelt. Es waren nur ein paar Stunden, aber in der Zeit hat sich Treuheit den Satz sagen hören: "Was habe ich in meinem Leben eigentlich angestellt?" Es war der Tag, als ihn drei Kolleginnen in seinem Büro am Cadolzburger Gemeindesee erwarteten, die Gesichter in den Händen vergraben. In der Fachpresse hatte Treuheit schon von einem Brand in einer Kleinstadt bei Leipzig gelesen. Dort stehen ein paar Hallen eines Grossisten, vor allem die Longseller von Kleinverlagen lagern im Depot. Dass von dem Feuer womöglich auch einige Bände von ihm betroffen sein könnten, ahnte Treuheit. Es waren dann aber nicht einige, es war fast der gesamte Bestand der dort aufbewahrten 22 Shakespeare-Bände.

Die eine Hälfte dieses Bestands war durch Feuer, Wasser und Ruß vernichtet. Die andere durch Brandgeruch mindestens so beschädigt, dass an eine Auslieferung als Prachtband kaum noch zu denken war. Als Treuheit das allmählich realisierte, schwante ihm, dass es mit der Lebensaufgabe "Shakespeare-Gesamtausgabe" womöglich doch nichts mehr werden könnte. Er habe gezweifelt, sagt Treuheit, ob er noch mal die Kraft aufwenden kann, sich dieser Vernichtung entgegenzustellen. Eine Flasche Wein lang hat er überlegt. Dann leerte er eine weitere bis zur Hälfte und entschied: Bis zum Shakespeare-Jubiläum 2014 wird diese Ausgabe nicht fertig, der Traum ist vorbei. Aber fertig wird sie, das ist er sich und Frank Günther, dem Übersetzer, schuldig.

Der größte Dichter aller Zeiten - verlegt in Franken

Dass Menschen Wein trinken, um eine Entscheidung von gewissem Ausmaß zu treffen, ist so ungewöhnlich nicht. Dass aber Norbert Treuheit das so praktiziert, könnte man für ein mittleres Wunder halten. Zumindest aus der Sicht des Jahres 2006: Kurz vor seinem 50. Geburtstag hatte ihm ein Arzt zu verstehen gegeben, dass er ohne neue Leber den nächste Sommer nicht erleben wird. Eine erbbedingte Schädigung, er habe nur noch diese eine Chance: Transplantation. Fünf Monate wartete Treuheit. Als er noch 44 Kilogramm wog, kam nachts der Anruf, er solle sofort zu den Spezialisten nach Regensburg kommen. Es war stürmisch in der Nacht, "auf dem Weg habe ich mich mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass das womöglich meine letzte Autofahrt ist", sagt er. Zwar klappte das mit der Transplantation. Aber nach zwei Tagen wurden die Schmerzen unerträglich. Also die nächste Operation. Zwei Tage darauf das Ganze noch einmal. In der Nacht riet man ihm, sich von seiner damaligen Partnerin zu verabschieden.

Wenn der Chef eines Kleinverlags ein halbes Jahr ausfällt, ist das existenzbedrohend, "keine Frage", sagt Treuheit. Größere Rücklagen gab es nie, und natürlich liegt die letzte Entscheidung, ob man ein Buch macht oder nicht, beim Chef so eines Hauses. Allzu viele Flops kann man sich eben nicht leisten. Würde man also sagen, dass der Verlag 2006 mit dem Rücken zur Wand stand, wäre das ein Euphemismus. Dagegen, sagt Treuheit, war die Shakespeare-Vernichtung sieben Jahre später ein vergleichsweise übersichtliches Problem. Und trotzdem sei da eben der Gedanke gewesen: "Warum eigentlich ich?"

Inzwischen ist sich Treuheit sicher, dass er die 39 Bände vor sich stehen sehen wird, Shakespeare als Gesamtausgabe aus Cadolzburg. In der literarischen Welt gelten Günthers Übersetzungen längst als Chance, Shakespeare neu zu entdecken: "Romeo und Julia" einmal nicht mit den Augen des 19. Jahrhunderts gesehen, sondern frech, hart, zotig. "Ein bisschen wird die Arbeit an dieser Ausgabe mein Leben am Ende ausgemacht haben", sagt Treuheit. Warum er sich das zumutet? "Ich hab' mir gedacht: Der größte Dichter aller Zeiten, verlegt in einem kleinen Verlag aus Franken - warum eigentlich nicht?"

Ist sein Verlag dann womöglich ruiniert? Treuheit glaubt das nicht. Das letzte Jahr ist das umsatzstärkste in der Geschichte des Kleinverlages gewesen, angesichts der Krise in der Buchbranche könnte man das auch für ein kleines Wunder halten. Das Haus steht auf mehreren Säulen: Für seine Kalender, zum Teil Kunstwerke, wurde "Ars vivendi" mehrmals ausgezeichnet. Die zwischenzeitlich wuchernde Regionalkrimi-Mode trug das Haus durch härtere Zeiten. Geschichte, Reisethemen und Literatur aus Franken gehören ebenso zum Programm wie das Geschäft mit Literatur-Beiwerk, witzigen Accessoires und Rätsel-Spielen.

Belletristik macht nur etwa ein Viertel des Umsatzes aus, so hält sich das Haus über Wasser. Und wagt sich gerade an ein weiteres Projekt, zu dem Ökonomen eher nicht raten würden. Treuheit legt Klassiker der Literatur aus Franken neu auf. Die Reihe beginnt mit Hermann Kesten, der wohl als klassischer Franke gelten darf. 1974 mit dem bedeutendsten Literaturpreis der Republik ausgezeichnet, dem Büchner-Preis, ist Kesten weithin in Vergessenheit geraten. Wer seine Feuilletons aus "Dichter im Café" liest, eine Tour d'horizon durch die Kaffeehausliteratur mehrerer Städte und Epochen, kann das gut verstehen. Bildungsbürgerlich elegant ist das, was Kesten schreibt, aber alles andere als literarischer Schampus. Was umso mehr für den zweiten Band der Reihe zutrifft, für die Milieustudie "Ein Unding der Liebe" von Ludwig Fels. Auch dieser Roman aus der sozialen Provinz gehörte mal zum Kanon, ist aber lang schon vergriffen.

Treuheit hat beide Bände in bibliophilen Ausgaben herausgebracht, folgen sollen noch Werke von Jakob Wassermann, Leonhard Frank, Karlheinz Deschner. "Wenn wir es nicht machen, wer sonst?", fragt Treuheit. Wohl wahr: "Ars Vivendi" war 1988 der einzige Publikumsverlag in Franken. Und ist es bis heute geblieben.

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