Lawinensprengung im Karwendel:Wumms in Weiß

"Das ist wie bei einem Fallschirmspringer. Immer wieder aufregend": Bei größeren Menge Neuschnee, starkem Wind oder Wärmeeinbrüchen müssen die Sprengmeister der Karwendelbahn ausrücken, um die sieben Kilometer lange Dammkar-Abfahrt freizusprengen - erst dann dürfen die Freerider hier skifahren.

Heiner Effern, Mittenwald

Ein Knall zerreißt die Stille auf gut 2000 Metern Höhe, rast über das Tal hinweg an die Felswände gegenüber, verhallt. Wie in Zeitlupe kommt der Schnee in den fast senkrecht abfallenden Karwendelköpfen ins Gleiten. Die Rinnsale schwellen in Sekundenschnelle zu reißenden weißen Bächen an, sie vereinigen sich mit Schneemassen aus dem Hang oberhalb, rauschen wie eine Brandungswelle den Berg hinab. Schäumend, wirbelnd, bis sie schließlich an Kraft verlieren und verrauchen.

Lawinensprengung im Karwendel: Zehn Kilogramm Sprengstoff lösten diese Lawine aus, die in der östlichen Karwendelgrube in Mittenwald in die Tiefe rauscht.

Zehn Kilogramm Sprengstoff lösten diese Lawine aus, die in der östlichen Karwendelgrube in Mittenwald in die Tiefe rauscht.

(Foto: Effern)

Hans Gehrz nimmt die Finger aus den Ohren, als die Schneemassen unter ihm vorbeirauschen. "Sie kommt, sie kommt!", schreit der technische Betriebsleiter der Karwendelbahn seinem Kollegen Rainer Stoltefaut zu. Gemeinsam blicken sie von einem Felsenvorsprung auf die Lawine hinab, die sie mit zehn Kilogramm Sprengstoff ausgelöst haben. "Wenn du live eine große Lawine siehst, das ist wie . . .", sagt Stoltefaut später in der Kaffeepause, verdreht die Augen und lässt den Satz abreißen, weil dieses Gefühl mit Worten kaum zu fassen ist. "Das ist wie bei einem Fallschirmspringer. Immer wieder aufregend", ergänzt Gehrz.

Und doch ist ein solches Schauspiel für die beiden auch Alltag. Nach jeder größeren Menge Neuschnee, starkem Wind mit Verfrachtungen oder Wärmeeinbrüchen müssen die Sprengmeister der Karwendelbahn ausrücken, um das Dammkar freizusprengen, die legendäre Abfahrt für die Freerider. Sieben Kilometer führt sie durchs felsige Gebirge nach Mittenwald hinab, Pistenraupen fahren hier seit 1998 nicht mehr.

Tiefschnee bis an die Knie sorgt im besten Fall für vulkanartige Adrenalinausstöße bei den Skifahrern, besonders in Wintern wie heuer. In fast ganz Bayern fiel der Schnee dürftig, doch am Alpenrand in rauen Mengen. Auf der Zugspitze liegen mehr als fünf Meter. Die Abrisskante einer Lawine im Sudelfeld maß kürzlich zwei Meter Dicke.

In Garmisch musste man Sprengladungen aus einem Hubschrauber abwerfen, um gefährliche Schneemassen kontrolliert abrutschen zu lassen. Die Lawinengefahr in Bayern lag teilweise bei vier von fünf Stufen auf der Skala, in den vergangenen Tagen ging sie jedoch deutlich nach unten. Dennoch wurde am Dienstag ein Tourengeher in Reichenhall von einem Schneebrett mitgerissen.

"Feuer alleine würde nicht reichen"

Ein halber Meter Neuschnee ist bis zu diesem sonnigen Wintertag im Karwendel gefallen. Um Punkt sieben Uhr treffen sich die beiden Sprengteams von je zwei Mann an der Talstation der Bahn. Die Felsen gewinnen in der Dämmerung gerade Kontur, als die vier Mann in die Gondel steigen. Ein Kollege blockiert inzwischen mit einer Pistenraupe das Dammkar von unten und kontrolliert, ob schon Tourengeher im Gelände sind. Ist dies der Fall, wird die gesamte Sprengung abgesagt, und das Dammkar bleibt gesperrt.

Als die ersten Sonnenstrahlen die Gipfel zum Leuchten bringen, laufen die vier Sprengmeister oben schon durch einen 400 Meter langen Tunnel von der Bergstation zur Skiabfahrt. Am Ausgang steigt Stoltefaut mit einer Leiter auf das Dach und wirft die Sprengbahn an, einen mit Diesel angetriebenen Lift mit nur einem Bügel. Gehrz öffnet inzwischen in der früheren Pistenraupengarage den Bunker und holt die 2,5 Kilogramm schweren, roten Plastiksäcke mit dem Sprengstoff Ladin heraus.

Mit einer weißen Rebschnur bindet er sie zu einem Paket, zwei große Schlaufen dienen als Aufhängung. Nun holt Gehrz zwei gelbe Zündschnüre, quetscht vorne dran zwei Sprengkapseln und bohrt mit einem hölzernen Keil ein kleines Loch in das Paket. Behutsam schiebt er die beiden Kapseln etwa zehn Zentimeter in das weiße, pulvrige Ladin und fixiert sie mit einem starken Klebeband. "Feuer alleine würde zum Auslösen nicht reichen, erst die kleine Detonation der Kapsel bringt die große Sprengladung zum Explodieren", sagt er.

Die weiße Gefahr

Oben auf dem Dach hat Stoltefaut den Liftbügel schon einmal leer bis ans Ende der östlichen Karwendelgrube fahren lassen. "Ich muss das Seil eisfrei machen, damit die Ladung nicht stecken bleibt und an der falschen Stelle explodiert." Die beiden ausgebildeten Sprengmeister hängen das Paket an den Bügel. Während Stoltefaut im Lifthaus den Motor startet, brennt Gehrz die beiden Zündschnüre an und warnt per Funk die Kollegen. Langsam zieht der Bügel das rote Paket den Hang hinauf, verschwindet hinter einem Felsen. Zwei Minuten braucht die Zündschnur für einen Meter in dieser Höhe. Stoltefaut und Gehrz postieren sich auf den Felsvorsprung, um das Ergebnis ihrer Sprengung zu sehen.

Lawinensprengung im Karwendel: Hans Gehrz bereitet eine Ladung vor, die mit einer Bahn an den Sprengort gefahren wird.

Hans Gehrz bereitet eine Ladung vor, die mit einer Bahn an den Sprengort gefahren wird.

Nach der ersten Lawine wiederholen die beiden die Prozedur, um auch den Hang oberhalb des Tunnelausgangs freizusprengen. Dreihundert Meter weiter unten, außerhalb des Bereichs der oberen Lawinen, zündet das andere Sprengteam insgesamt sechs Ladungen. Eine ist fast eine halbe Stunde lang unterwegs, die östliche Ringbahn ist die längste Sprengbahn Deutschlands. Erst kurz vor Mittag sind alle neuralgischen Punkte frei, etwa 70 Kilogramm Ladin sind hochgegangen.

Nun beginnt die Arbeit von Heinz Pfeffer und seinen Männern. Sie bilden in Mittenwald die Lawinenkommission, wie es sie im Gebirge überall gibt, um die weiße Gefahr zu erkennen. Sie kontrollieren gefährdete Straßen, Langlaufloipen und in Mittenwald auch das Dammkar. Gegen Mittag werfen sie prüfende Blicke vom Tunnelausgang auf die Hänge rundum, fahren in die Abfahrt ein.

Schon nach wenigen hundert Metern markieren Pfeffer und ein Kollege ein Quadrat im Schnee, etwa 30 auf 30 Zentimeter groß. An den Rändern graben sie einen Meter hinunter, bis sie einen Schneeblock freigelegt haben. Nun klopfen die bergerfahrenen und geschulten Männer kräftig mit den Händen auf diesen Block. "Wir untersuchen die Schneedecke auf Schwachschichten. Die sind die größte Gefahr." Löst sich bei den Schlägen nichts, ist die Lawinengefahr gering, lösen sich die Schichten leicht wie zwei Blätter Papier aufeinander, kann auch eine Lawine leicht abgehen.

Etwa 15 Schneeblöcke graben die vier Männer, am Ende der Abfahrt beraten sie, ob sie das Dammkar freigeben können. Hat nur einer Zweifel, geht nichts. Das Ergebnis melden sie dem zuständigen Ordnungsamt. Etwa zehnmal im Jahr müssen die Sprengmeister der Karwendelbahn ausrücken. An diesem Mittag hat keiner Einwände. Gondel für Gondel schweben nun die Tiefschnee-Freaks nach oben, am Schaltpult stehen Gehrz und Stoltefaut. Die wenigsten Skifahrer wissen, dass ihnen diese Männer gerade erst ihre Abfahrt freigesprengt haben.

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