Kurs für Prostituierte:Jenseits aller Tabus

Prostitution Bauma Messe, München

Sexualbegleitung und Sexualassistenz für Menschen mit Behinderung sind in den Nachbarländern Schweiz und Österreich längst eine Selbstverständlichkeit. In Bayern gibt es in dieser Hinsicht allerdings einiges nachzuholen.

(Foto: Florian Peljak)

Sex und Zärtlichkeit für Behinderte: Postituierte lernen bei einer Beratungsstelle, wie sie auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung eingehen können. Die Diskussion, wie weit Sexualassistenz gehen soll, erinnert in ihrer Heftigkeit an weltanschauliche Grundsatzdebatten.

Von Dietrich Mittler

Das Büro der Nürnberger Prostituierten-Beratungsstelle "Kassandra" in der Breitscheidstraße: ein knallrotes Sofa nahe der Empfangstheke, an der Wand ein pastellfarbenes Bild, dazu ein großer brauner Tisch. Das Ambiente wirkt gemütlich. Meist werden hier Frauen und Männer, die aus der Sexbranche aussteigen wollen, vom Projekt "Opera" in ihrer beruflichen Neuorientierung unterstützt.

Nicht so an diesem Abend: Sieben Kursteilnehmer dürfen sich ihr Abschluss-Zertifikat abholen. Dem Erscheinungsbild nach könnten sie Mitglieder der Mittelstandsvereinigung sein - würde da nicht das frisch gedruckte Dokument in ihren Händen ihre Befähigung zur "qualifizierten Sexualbegleitung und Sexualassistenz" bestätigen.

Bärbel Ahlborn, die Leiterin der Beratungsstelle, ist stolz auf die Schulungsstunden, die Kassandra - fachlich begleitet von der Schwangeren- und Sexualberatungsstelle Pro Familia - entwickelt hat: "Wir haben hier ein bundesweit bislang einmaliges Modellprojekt auf die Beine gestellt", sagt sie. Erika, Birgit, Kai, Elisabeth und Romy (alle Teilnehmernamen wurden geändert) haben dort gelernt, wie sie als Prostituierte auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen eingehen und ihnen zu einer befriedigenden Sexualität verhelfen können. Auch zwei Männer machten mit: Richard und Kurt.

"Die öffentliche Meinung wird sich spalten"

Bei einem Glas Sekt, einem Stück Pizza und Salat wird der Kursabschluss gefeiert. Bei aller Freude ist den Absolventen bewusst, dass ihr Zertifikat die Einstellung vieler Menschen kaum ändern wird. Prostitution ist nach wie vor ein Tabuthema.

Noch größer ist oft das Befremden darüber, dass käuflicher Sex auch Menschen mit körperlicher, geistiger oder psychischer Behinderung zugänglich sein soll. Romy bringt es auf den Punkt: "Die öffentliche Meinung wird sich spalten. Einige Leute werden das begrüßen. Aber viele - die schon immer gegen uns Sexarbeiterinnen waren - werden sagen, das ist pervers!"

Simone Hartmann, die stellvertretende Leiterin von Pro Familia in Nürnberg, will es nicht ganz so pessimistisch sehen. "Heute sind Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung keine Tabus mehr, auch wenn es immer noch nicht selbstverständlich ist, es als selbstverständlich zu behandeln", sagt sie. Das zeigte sich vor wenigen Monaten erst in München auf der Tagung "Sexualität ist nicht behindert".

"Es steht nicht immer der Geschlechtsverkehr im Vordergrund"

Viele Heim- und Einrichtungsleiter bestreiten längst nicht mehr, dass Menschen mit Behinderung ein Anrecht auf Sexualität haben. Aber öffentlich zuzugeben, dass man den Besuch von Prostituierten gestatte, das vertrage sich nicht mit dem Image des Hauses.

Mittlerweile wird in Internetforen sehr offen diskutiert, ob auch schwerstbehinderte Menschen - etwa querschnittsgelähmte Männer - Sex haben können. Und wenn ja, wie, wenn die Betroffenen unterhalb der Gürtellinie nichts mehr spüren. Die Partnerin eines solchen Mannes teilt da in ihrem Blog mit: "Durch viel Zeit, die wir hatten, und durch Streicheleinheiten an Stellen, die man früher eher nicht als erotisch empfand, entdeckt man sich neu, intensiver."

Erika, die keinen der Kassandra-Abende ausließ, glaubt, dass sich die Öffentlichkeit ein falsches Bild über die Sexualbegleitung von behinderten Menschen mache: "Es steht nicht immer der Geschlechtsverkehr im Vordergrund, sondern die Zärtlichkeit, das Berühren", sagt sie.

Und dazu fällt ihr eine Geschichte ein: Als sie einen alten Herrn das erste Mal im Altenheim besuchte, habe der ihr beim Abschied im Gang zugeflüstert: "Wenn die anderen hier wüssten, wie wild wir es gerade getrieben haben." Darüber schmunzelt Erika noch heute. "Wir haben doch nur getanzt und uns ein wenig dabei berührt", sagt sie. Erst hinterher sei ihr bewusst geworden: "Das war das Schönste, was er die ganzen Jahre über im Heim erlebt hat."

Die blonde Nürnbergerin ist selbst seit vielen Jahren als Altenpflegerin beschäftigt. Ihre Tätigkeit als Sexarbeiterin ist für sie ein Nebenjob - allerdings einer, den sie mit Ethos ausfüllt. "Was ich da nach Feierabend mache, sehe ich nicht als rein sexuelle Dienstleistung", sagt sie. Alte und pflegebedürftige Menschen würden im Heimalltag "doch allenfalls beim Waschen oder beim Anziehen berührt".

Erkas Partner weiß von ihrem Job als Prostituierte

Bislang beschränkte sich Erikas Angebot auf die Bewohner entfernter Altenheime, zu denen sie mit dem Auto hinfährt. Künftig werden auch Menschen mit körperlichen, geistigen und psychischen Behinderungen hinzukommen. Finanziell ist das durchaus lohnend: "Natürlich nehme ich die 150 Euro mit, sonst wäre ich ja dumm", sagt Erika in gepflegtem Fränkisch.

Ihr Partner weiß von ihrem Nebenjob. "Wenn du damit klarkommst . . .", das war sein einziger Kommentar. Erika erfüllt das mit Stolz: "Er ist ein erwachsener Mann, nicht irgendein Buberl. Er kennt mich und weiß, dass ich eine Verrückte bin - immer schon ein bisserl anders als die anderen."

Für Kursteilnehmer Richard, der nur ungern über sich selbst spricht, ist indes die Frage noch längst nicht geklärt, ob er überhaupt als zertifizierter Sexualbegleiter arbeiten will. "Die Frauen hier im Kreis sind den professionellen sexuellen Umgang ja gewohnt", sagt er. "Ich hingegen kenne Sex ja nur im privaten Leben."

Prostitution - ein heißes Thema

Und dann fängt er doch an zu erzählen: Eigentlich habe er ja zwei, drei ihm bekannte Prostituierte dazu bewegen wollen, an diesem Kurs teilzunehmen. Die Frauen wollten aber nicht. Am Ende saß Richard selber drin - alleine. Und nun hat er auch noch dieses Zertifikat in der Tasche, mit dem er bislang nichts richtig anzufangen weiß. Richards Blick spricht Bände, aber da streicht ihm Erika kumpelhaft mit der Hand über den Arm: "Das funktioniert von selbst, du brauchst da keine Angst haben."

Klaus, der zweite Mann im Kurs, kommt wie Erika aus dem Sozialbereich. "Ich war Gruppenleiter in einer Werkstatt für geistig Behinderte ", sagt er. Dort habe er deren sexuelle Bedürfnisse kennengelernt, ihre Nöte: "Da ist ja irgendetwas, was erlebt werden will - und die Leute haben keine Möglichkeit dazu. Viele können es ja nicht einmal benennen." Über seine künftige Arbeit hat Klaus noch keine konkreten Vorstellungen: "Also ich denke, da geht es um Aufklärung, um Körperfeeling - mal einen nackten Mann sehen, vielleicht auch mal anfassen, solche Geschichten", sagt er.

Im Gegensatz zu Richard, der sich allenfalls Frauen als Klientinnen vorstellen kann, ist Klaus auch Männern gegenüber offen. "Aber das kommt dann aufs Gegenüber an", fügt er hinzu. Klaus hat erwachsene Kinder. Die wissen, was er jetzt beruflich vorhat. "Es ist kein Thema, sie finden das gut", sagt er.

Birgit hingegen, eine lebhafte, schlanke Frau, die seit 26 Jahren im Milieu ihr Geld verdient, quälte sich oft mit der Frage: "Wann sage ich es meinem Kind?" Als sie sich ihrer Tochter schließlich offenbarte, war der Schmerz groß - beiderseits. Birgit redet nicht gern darüber. "Meine Tochter hat nicht geklatscht", sagt sie nur.

"Damals waren wir Exotinnen"

Simone Hartmann weiß, dass Prostitution ein heißes Thema ist. Dass Pro Familia Nürnberg den Kassandra-Kurs fachlich begleitet, sei jedoch schlicht notwendig: "Vor allem in Bayern wurde der Mangel an passenden und qualifizierten Angeboten für Menschen mit Behinderungen immer deutlicher", sagt sie.

Vor 15 Jahren hatte die Diplom-Sozialpädagogin mit Brigitte Frey, der früheren Leiterin von Pro Familia Nürnberg, das Thema Sexualität und Behinderung aufgegriffen. "Damals waren wir Exotinnen", sagt Hartmann. Aber die Pro-Familia-Frauen waren beileibe nicht die Einzigen, die mit dem Tabu brechen wollten.

Schon 1992 hatte die Spastikerhilfe in Berlin die "Arbeitsgruppe Behinderung & Sexualität" gegründet - angestoßen durch die Nöte einer schwerbehinderten Frau, die für sich eine Sexualbegleitung herbeisehnte.

Im Jahr 1994 baute der querschnittsgelähmte Psychologe Lothar Sandfort das "Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter" auf, das sich auch der Ausbildung von Sexualbegleiterinnen und -begleitern widmet, und im März 2000 bildete sich die Initiative "Sexybilities". Deren Grundprinzip lautet: "Betroffene beraten Betroffene", wie es Matthias Vernald als Mann der ersten Stunde beschreibt.

Bei diesen Beratungsgesprächen würden auf Nachfrage auch Anbieterinnen und Anbieter sexueller Dienste empfohlen, "von denen wir wissen, dass sie keine Berührungsängste gegenüber Behinderungen haben" .

Wenn der Hamster beim Sex zusieht

Als Pionierin auf diesem Gebiet gilt die aus den Niederlanden stammende Nina de Vries, die ihre Dienste als "Sexualassistenz" versteht, bei der "die Klienten bestimmen, was passiert". Dabei setzt aber auch sie Grenzen: Geschlechts- oder Oralverkehr möchte die Wahlberlinerin nicht anbieten.

Auch Catharina König aus Bochum stellt klar, dass ihre Sexualbegleitung in der Regel nur Streicheln, Körperkontakt, Massage und sexuelle Befriedigung ohne Küssen, Geschlechts- und Oralverkehr umfasst. Die in Bremen lebende Vimala Brunnmüller indes bezeichnete sich auf ihrer Homepage als "Übungsfrau", bei der behinderte Männer und Frauen "auf liebevolle und achtsame Weise" sexuelle Erfahrungen machen können.

Die Diskussion, wie weit Sexualassistenz und Sexualbegleitung gehen sollten, ob neben der Aufklärungsarbeit der volle Körpereinsatz dazugehört, erinnerte in seiner Heftigkeit bisweilen an weltanschauliche Grundsatzdebatten. Auch in der Neuauflage einer Aufklärungsschrift von Pro Familia wird noch eine scharfe Grenze zwischen Sexualbegleitung und Prostitution gezogen: Der Sexualbegleitung hafte "weniger der Ruf des Unmoralischen an".

Der Kurs wertet den Beruf Prostitution auf

Bärbel Ahlborn sträuben sich da die Nackenhaare: "Prostitution ist in Deutschland erlaubt. Menschen, die diese Dienste anbieten, arbeiten als selbständige Geschäftsleute und zahlen Steuern." Kursteilnehmerin Kai leidet unter den Vorurteilen. "Unsere Arbeit ist nicht unseriös", sagt sie, "wir tun vielen Männern Gutes." Es sei nicht jedem gegeben, eine Partnerin zu finden.

Kai ist seit langem Profi: "Ich bin froh, dass unsere Arbeit nun durch den Kurs von Pro Familia und Kassandra auch eine seriöse Note bekommt", sagt sie. Dabei ist die Begegnung von Theorie und Praxis im Kurs aber nicht immer frei von Komik.

Als es etwa zum Abschluss noch einmal darum geht, dass geistig und psychisch behinderte Menschen unruhig reagieren können, wenn sie mit ungewohnten Abläufen konfrontiert werden - und dass sie oft einen sehr genauen Fahrplan im Kopf haben, wie sexuelle Begegnungen abzulaufen haben, meint Erika, das kenne sie auch von anderen Männern: "Ich hatte mal jemanden, der wollte unbedingt, dass sein Hamster beim Sex zuschaut", platzt es aus ihr heraus. Richard macht sich auf Erikas Worte sofort seinen eigenen Reim: "Und wenn sich der Hamster umdreht, dann hat es ihm wahrscheinlich nicht gefallen."

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