Kloster Ettal:Pater M. - ein Dokument namens "Bekennen"

Jetzt also Ettal. Wieder eine katholische Eliteschule, wieder geht es um sexuellen Missbrauch, der lange verborgen blieb und nun ans Licht kommt: Ein Ordensbruder schrieb kurz vor seinem Tod eine Lebensbeichte.

Matthias Drobinski, Ettal

Zwölf Jahre war er alt, 1976, ging in die sechste Klasse am Internat der Ettaler Benediktiner. Jungs mit zwölf sind mal cool und stark - manchmal aber wollen sie in den Arm genommen werden. Gut, dass es da Pater M. gab, den besten Lehrer der Schule. Ein Sportler, Handballer, Schwimmer; einer, der herzlich war und offen, wo mancher Ordensmann noch steif und distanziert daherkam. Abends ging er im Schlafsaal herum und gab den Jungs einen Gute-Nacht-Kuss, manchmal ziemlich lange auf den Mund. "Mal fand ich das witzig, mal eklig", sagt Thomas, der in Wirklichkeit anders heißt.

Kloster Ettal, dpa

Jetzt also Ettal - wieder eine katholische Eliteschule, wieder geht es um sexuellen Missbrauch.

(Foto: Foto: dpa)

Eines Tages lud M. ihn zum Schwimmen ein, morgens um sechs. "Ich war stolz und aufgeregt", sagt Thomas. Der Pater schwamm seine Bahnen, dann setzte er sich neben den Jungen, streichelte ihn, küsste ihn, befriedigte ihn.

"Er hat mich zu nichts gezwungen, ich fand das sehr aufregend, sehr mysteriös", erzählt er.

Lange hat er das als frühes sexuelles Erlebnis eingeordnet, als erste homosexuelle Liebe. Erst jenseits der 40 hat er sich eingestanden, dass die Beziehung eines Lehrers zu einem zwölfjährigen Schüler nicht frei und fair sein konnte, dass dieses Erlebnis ihn bis heute belastet. "Pater M. hat ein Tor aufgestoßen, das mit zwölf nicht aufgestoßen gehört", sagt Thomas, "das war Missbrauch."

Jetzt also Ettal - wieder eine katholische Eliteschule, wieder geht es um sexuellen Missbrauch, der lange verborgen blieb und nun zutage kommt. Die Dimensionen sind, was die Zahl der Täter und der Opfer betrifft, offenbar nicht so groß wie an den Jesuitenschulen in Berlin und Hamburg, Bad Godesberg und Sankt Blasien. Die Strukturen aber sind vergleichbar.

Die Schule gilt als eine der besten in Bayern; die Wittelsbacher Franz und Max Emanuel von Bayern lernten hier, der spätere bayerische Ministerpräsident Max Streibl (CSU) und der spätere Erste Bürgermeister von Hamburg, Klaus von Dohnany (SPD). Sie will keine Paukschule sein, sondern Nähe bieten, fürs Leben prägen.

Das ist eine große Stärke, das macht die Schule aber auch anfällig für Grenzüberschreitungen und für eine Verschweigekultur: Das strahlende Bild der Schule, des Ordens, der katholischen Kirche darf keine Kratzer bekommen. Viele Mönche und Lehrer sind selber auf die Schule gegangen, auch das erschwert die Wahrheitsfindung.

Es ist ein schöner Spätwinter-Sonntag mit endlos blauem Himmel, die weiße Barockkirche mit ihrer grünen Kuppel strahlt, Touristen kaufen Kräuterlikör, die ersten Schüler rattern mit ihren Rollkoffern Richtung Internat - die Schule geht nach den Faschingsferien wieder los. Im lichtdurchfluteten Direktoratszimmer sitzt Pater Maurus Kraß. Der Schulleiter hat vor sich liegen, was Thomas und was ein weiterer ehemaliger Schüler der Süddeutschen Zeitung erzählt haben.

Im Video: Die katholische Kirche in Deutschland hat sich bei den Opfern von Kindesmissbrauch entschuldigt und will ihre Vorschriften zum Umgang mit solchen Fällen überprüfen.

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Anspannung und Trauer

Man spürt seine Anspannung und Trauer. Er hat in den vergangenen Tagen mit ehemaligen Schülern, Lehrern, Ordensbrüdern geredet, die Personalakten durchforstet. Er sagt: "Die Vorwürfe gegen Pater M. treffen wohl zu." Und er erzählt die Geschichte eines Lehrers mit zwei Gesichtern, aber auch die Geschichte des Schweigens.

Mitte der vierziger Jahre tritt Pater M. in den Orden ein, wird Lehrer, ist schnell beliebt, kümmert sich um den Sport, die neue Schwimmhalle, ist immer da und ansprechbar - ein Vorzeigepädagoge. 1969 aber melden sich zwei Schüler: Der Lehrer habe mit der Gruppe nackt geduscht; Pater M. sagt, ihm sei es um Sportskameradschaft gegangen. Das Kloster zieht ihn aus dem Schuldienst ab - und setzt ihn 1973 wieder ein. "Das war unser großer Fehler", sagt Pater Maurus, "damals dachten wir, er hat sich gefangen. Aus heutiger Sicht hätten wir ihn nicht mehr im Internat lassen dürfen."

Er bleibt aber, bis 1984. In den Personalakten, sagt Pater Maurus, finden sich in diesen Jahren keine Hinweise auf Übergriffe - aber offenbar hat es immer wieder Erzählungen und Gerüchte gegeben.

Nur dass damals niemand den Mann zur Rede stellte, Kinder befragte, Konsequenzen zog. Erst 1984 beschwerte sich eine Mutter, der sich ihr Sohn anvertraut hatte - und Pater M. kam nach den Sommerferien nicht mehr in den Schuldienst zurück. "Das war ein Paukenschlag", erinnert sich ein Ehemaliger. Eine Erklärung gab es damals nicht, Pater M. ging für ein Jahr nach Österreich; als er wiederkam, gab er Computerkurse. "Aus heutiger Sicht würden wir das auch nicht mehr tun", gibt Pater Maurus zu.

Maurus Kraß ist seit 1991 Lehrer an der Klosterschule, seit 1997 Schulleiter, er selber habe von der Vorfällen erst 2002 und 2003 erfahren. Damals wurde im Nachlass einer Therapeutin ein Brief gefunden, in dem ein Patient M. belastete; die Kriminalpolizei ermittelte, stellte aber die Ermittlungen bald wieder ein. Und dann kam 2003 das Treffen des Abitur-Jahrgangs von 1983, in dessen Vorfeld zwei Schüler baten, Pater M. möge dem Treffen fernbleiben; sie erzählten von Grenzverletzungen. Maurus strich daraufhin die Computerkurse. "Er hat das einfach akzeptiert", sagt er.

Pater M. ist im Herbst 2009 gestorben, nach langem Krebsleiden. Das wahre Ausmaß der Übergriffe habe er erst begriffen, sagt der Schulleiter, als er im Januar die Zelle des toten Mitbruders ausräumte und noch einmal dessen Computer startete. Auf dem Desktop, dort, wo auch ein unaufmerksamer Beobachter es finden musste, gab es ein Dokument, das "Bekennen" hieß. Im Dezember 2008, als er wusste, dass es ans Sterben geht, hat der Pater eine Lebensbeichte niedergeschrieben, Verhältnisse mit Buben des Internats eingeräumt, allerdings keine Namen von Opfern genannt. Pater Maurus bittet, dass sich mögliche Opfer melden.

Warum die Spirale des Schweigens so lange funktionierte, warum er als Schulleiter die Wahrheit erst 2003 erfuhr, das kann er nicht so recht sagen. "Im Nachhinein klingt vieles naheliegend", sagt er. Sein Unbehagen zum Beispiel, als er sah, wie Pater M. und ein ehemaliger Schüler zärtlich die Wangen aneinander drückten. 2005, zum hundertsten Schuljubiläum, hat Internatsdirektor Pater Paulus sich bei den Jugendlichen entschuldigt, "denen der angemessene Respekt beziehungsweise die Ehrfurcht vor ihnen versagt blieb"; es sei "manches falsch gelaufen, worunter mancher noch nach Jahrzehnten leidet". Nach der Rede seien Schüler zu ihm gekommen - er habe da einen Nerv getroffen.

"Wir können das Geschehene nicht wiedergutmachen, wir können es nur aufarbeiten", sagt der Schulleiter. Am Montag hat er die Schüler, Lehrer und Eltern informiert, er hat weitere Fälle recherchiert: Ein Missbrauch geschah in den 50er Jahren, der Lehrer kam ins Gefängnis. Ein Fall aus den 80er Jahren ist umstritten: Auch hier gibt es Gerüchte um Übergriffe eines Erziehers, der vor 20 Jahren das Internat verließ.

"Die Wahrheit macht euch frei"

Von Pater Maurus zur Rede gestellt, sagt er, er habe Schüler gedrückt und gekitzelt, mehr nicht. Und dann gab es noch einen weltlichen Pädagogen, der von einer Ferienfahrt Anfang der 80er Jahre Bilder von nackten Kindern machte - das Arbeitsverhältnis wurde beendet, als bekannt wurde, dass gegen ihn Ermittlungen wegen Missbrauchs in einem Kinderdorf der Caritas laufen.

Und dann erzählt Pater Maurus, wie viel sich geändert hat seit den 80er Jahren. "Damals waren Schüler in Not oft allein", sagt er, "heute haben wir in jeder Internatsgruppe Sprecher, und wer bei uns mit Kindern zu tun hat, muss wissen, dass dies ein Beruf ist, in dem man das Verhältnis von Nähe und Distanz wahren muss."

Maurus Kraß sorgt sich um die Schüler von heute, dass das große gegenseitige Vertrauen leiden könnte. Und um die Klostergemeinschaft, wo doch einige Mönche wussten oder ahnten, was schieflief mit Pater M. "Aber uns hilft nur das Wort aus dem Johannesevangelium", sagt er: "Die Wahrheit macht euch frei."

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