Kirchenverfall:Kleinod in Not

Die wunderbare Filialkirche von Zell im Wasserburger Land ist ein Beispiel dafür, dass mit dem Verlust an Religiosität vielerorts auch ein Verlust an Kulturgut einhergeht: In allen Ecken wird der Verfall sichtbar

Von Hans Kratzer, Zell

Die Familie Kiermaier bewirtschaftet in der Nähe von Wasserburg am Inn einen Bauernhof, das Anwesen ist eingebettet in eine Idylle wie aus dem Fremdenverkehrsprospekt. Seit Menschengedenken obliegt der Familie aber noch eine weitere Verantwortung, die durchaus über die irdischen Belange hinausreicht. Auf dem Kiermaier-Anwesen ruht nämlich das Mesneramt für die Filialkirche Sankt Laurentius, ein Bauwerk, das die Landschaft rund um den Weiler Zell schon seit dem Mittelalter prägt. Dem Wanderer geht schier das Herz auf, wenn sein Blick von der benachbarten Anhöhe aus auf die beiden Anwesen von Zell fällt, die durch eine Straße von der mitten im Wiesengrund stehenden Kirche getrennt sind. Dahinter erhebt sich die Innleiten, der Maler Spitzweg hätte sich diese Kulisse nicht erfreulicher ausdenken können.

Ortschaften wie Zell setzen mit ihrer heiteren Modulation einen scharfen Kontrapunkt zu den Verwüstungen, die der Fortschritt in vielen anderen Teilen des Freistaats angerichtet hat. In der Wasserburger Landschaft entlang des Inns dominieren immer noch viele Kirchen, Kapellen und Marterl die Szenerie. Die zum Pfarrverband Rieden-Soyen-Edling gehörige Filialkirche von Zell reiht sich zunächst eher unauffällig in diese Reihe ein. Allein für die Erzdiözese München-Freising weist die Statistik 751 Pfarrkirchen und 1140 Filial- und Nebenkirchen auf. Damit verbunden ist eine gewaltige Baulast, die alljährlich 100 Millionen Euro verschlingt. Das kommt nicht von ungefähr, denn abgesehen von ihrem pastoralen Zweck zeichnen sich viele Gotteshäuser als kunsthistorische Sehenswürdigkeiten aus.

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Auch die Filialkirche von Zell ist eine solche Kostbarkeit. "Oh, wie schön!" entfährt es den meisten Besuchern, die das Innere der Kirche zum ersten Mal sehen. Die Wände sind mit sehr seltenen, uralten Fresken ausgestattet. Vom hohen Alter des Gotteshauses zeuge auch das Laurentius-Patrozinium, wie Kreisheimatpfleger Ferdinand Steffan erklärt, der wohl beste Kenner dieses Kleinods. Das Erschrecken folgt erst auf den zweiten Blick. Wer genau hinschaut, beobachtet in allen Nischen und Ecken den Verfall: Nicht nur, dass Finger und Zehen der Heiligenfiguren brechen und herunterfallen. Auf die Altäre rieselt der Holzwurmstaub, im Gewölbe weiten sich die Risse. Die Wände sind durchfeuchtet. Bereits auf einen Meter ist die Nässe gestiegen, es ist nicht mehr weit hin bis zu den wertvollen Fresken, die erst bei der letzten Renovierung in den 1950er Jahren freigelegt wurden. Seitdem ist restauratorisch nichts mehr passiert. Für die Trockenlegung ist momentan kein Geld übrig. Die Erzdiözese muss viele Baustellen versorgen, Filialkirchen genießen notgedrungen nicht die oberste Priorität.

Und so beschert die Kirche von Zell dem Besucher nicht nur einen Kunstgenuss, sondern auch ein drastisches Bild dessen, was der sakralen Landschaft in den kommenden Jahrzehnten blühen könnte. Bayern ist nicht mehr sehr katholisch, trotz der vielen schönen Kirchen. Als Gradmesser für die im Freistaat obwaltende Frömmigkeit taugen sie nicht mehr. Die Verweltlichung der Gesellschaft, die Auszehrung der alten "Bavaria Sancta" wird wohl irgendwann ihren Preis auch in der Bausubstanz fordern, und dass das nicht schön sein wird, ist in Zell gut zu beobachten.

Freilich, die Zeller Kirche ist zäh. Schon in der Säkularisation sollte sie abgerissen werden, erzählt Heimatpfleger Steffan. Doch die Bauern verhinderten das, indem sie die Kirche kauften. "Sie waren quasi die ersten Denkmalpfleger." Im Dritten Reich sollte sie abermals abgerissen werden. Jetzt widmeten die Bauern sie wieder an die Kirche zurück, die Nazis hatten damit keinen Zugriff mehr.

Ein Abriss wäre eine kulturhistorische Barbarei gewesen. Dass die Kirche einen mehr als tausend Jahre alten Kern hat, zeigen romanische Fenster, die aber zugemauert sind. "All diese kleinen Kirchen tragen Geheimnisse in sich, die noch wenig erforscht sind", sagt Steffan. Gleichwohl mühen sich Mesner Martin Kiermaier und seine Mutter nach Kräften, die Zeller Kirche zu erhalten. Jeden Tag sind sie dort beschäftigt, es muss gelüftet werden, der Blumenschmuck muss erneuert werden, und wenn eine Maiandacht oder das Patrozinium ansteht, wird alles fein herausgeputzt. Dass das Interesse der jungen Leute am Kirchenbesuch nachlässt , ist aber auch in Zell unübersehbar. Trotzdem: "Solang wir no kennan, solang machen wir des!", sagt Mesner Martin Kiermaier. Die Kirche in Zell weist von der Romanik bis zur Neugotik alle Stilelemente auf, die der Kirchenbau in Bayern hervorgebracht hat. Wie lange es noch weitergehen wird, ist offen.

Für den Tipp bedanken wir uns bei Ferdinand Steffan aus Eiselfing .

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