Kirchenglocken:Das Geheimnis des perfekten Glockenklangs

Glocken-Projekt

Schallkammer: In der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten wird Glocken eine besondere Aufmerksamkeit zuteil.

(Foto: Johannes Simon)

Forscher am Europäischen Glockenzentrum in Kempten wissen, wie ein Geläut klingen muss, und kennen die Klangvorlieben jeder Nation.

Von Lisa Schnell, Kempten

Bei der Arbeit muss Andreas Rupp ans Baden denken - wegen der Glocken. Vernimmt Rupp, 58, das Geläut, hört er auch seine Mutter, wie sie ihm jeden Samstag sagte: "Wenn die Glocken läuten, kommst du heim." Und wenn er samstags heim kam, ging es in die Badewanne. Ins Wasser, in dem seine zwei Schwestern sich schon gewaschen hatten, aber trotzdem, Rupp mochte den Samstagsbadebrauch.

Wenn er Glocken läuten hört, dann denkt er also an Seifenblasen und warmes Wasser oder vielleicht an nicht mehr ganz so warmes Wasser, aber es sind schöne Erinnerungen. Das ist sehr nützlich, denn Rupp hört so gut wie jeden Tag Glocken.

Warum klingt eine Glocke schief? Warum kriegt sie Risse? Warum zerbricht sie gar? Rupp weiß es. Er ist so etwas wie ein Glocken-Doktor und leitet das Europäische Glockenzentrum Pro Bell, das einzige in Europa. Seinen Sitz hat es an einem Ort, den man sofort mit Glocken verbindet, wenn auch mit Kuhglocken: im Allgäu an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten.

Aus ganz Europa fragen sie Rupp, wenn es ein Problem mit Glocken gibt. Zum Beispiel mit dem "Dicken Pitter", der St.-Peters-Glocke im Kölner Dom. Von Anfang an war es ein Glockentrauerspiel. Es fing an mit Kaiser Wilhelm, der gespannt zum mächtigen Geläut hinaufblickte. Die Glocke aber machte keinen Mucks. Wie der Kaiser das fand, ist nicht überliefert, "stinksauer" wird er gewesen sein, vermutet Rupp. Auch was mit den 16 starken Kölner Burschen passierte, die an den Seilen zogen und zogen, ohne der Glocke einen Ton zu entlocken, weiß man nicht.

Nur, dass sie nicht schuld waren an dem Debakel. Schuld war der Klöppel, sagt Rupp. Der schwang einfach mit der Glocke mit, ohne sie jemals zu treffen. Er wurde ausgewechselt, in den Fünfzigern dann traf er endlich die Glocke, aber wie. Der Kölner Glockenkuss, wie die Berührung von Klöppel und Glockenwand heißt, fiel stürmisch aus. Die Glocke brach. Und dann fiel 2011 auch noch der Klöppel runter. Zeit für Glocken-Doktor Rupp. Seine Diagnose: Der 900-Kilo-Klöppel war viel zu schwer. Rupp verordnete einen leichteren und löste das Problem.

Wie er das weiß? Rupp öffnet die Tür zu seinem Klanglabor: ein hoher Raum, links, rechts und an der Decke kleben Dreiecke an der Wand, die Spitzen dem Innenraum zugewandt - wie die Dämmung in einem Tonstudio, nur viel spitzer und größer. In einem Holzgehäuse hängt eine riesige Glocke, daneben rote Schallschutzkopfhörer.

Kirchenglocken: Als Kind musste Andreas Rupp samstags, wenn die Kirchenglocke zu hören war, nach Hause kommen.

Als Kind musste Andreas Rupp samstags, wenn die Kirchenglocke zu hören war, nach Hause kommen.

(Foto: Andreas Rupp/oh)

Von Weitem klingen Glocken vielleicht wie Engelszungen. Wenn man direkt neben ihnen steht, machen sie einen Höllenlärm. Ein Lärm, bei dem Rupp an seine Kindheit denkt, aber vor allem an die Wissenschaft. Jeder der zwölf Töne, die eine Glocke bilden kann, wird durch Mikrofone aufgenommen.

Sensoren messen, wie leidenschaftlich der Glockenkuss ausfällt und wie sich die Glockenbronze verformt, ein Gemisch aus Kupfer und Zinn. Aus diesem "musikalischen Fingerabdruck" können Rupp und seine drei Kollegen ablesen, was der Glocke fehlt. Ja, sie können sogar schon Risse und Schäden voraussagen, bevor sie überhaupt sichtbar sind. Und dem "Dicken Pitter" aus Köln fehlt nichts mehr. Das hat die Nachsorgeuntersuchung im Labor von Rupp ergeben.

Jede Nation hat ihre Vorlieben bei Glockengeläut

Eigentlich ist Andreas Rupp natürlich kein Glocken-Doktor, das ist nur ein griffiger Name, von Journalisten ausgedacht. Rupp ist Ingenieur. Früher arbeitete er mit Autos und Maschinen, wie das Ingenieure so tun. Die Glocken aber sind ihm lieber. Warum, erklärt Rupp mit einem Lied von Edith Piaf: "Les trois cloches". Die drei Glocken bestimmen das Leben eines jeden Menschen. Sie läuten zur Taufe, zur Hochzeit und zum Tod. "Glocken sind ganz tief verwurzelt in den Menschen", sagt Rupp.

Oder wer kann sich der Rührung widersetzen, die einen ereilt, wenn von Weitem über die Wipfel Glockengeläut an das Ohr weht? Rupp zumindest nicht. Die älteste Glocke läutet seit 1000 Jahren. Von Generation zu Generation geben Glockengießer ihre Erfahrungen weiter. Wissenschaftliche Erkenntnisse über ihr Handwerk hatten sie nicht. Und so war es ein erbitterter Streit zwischen zwei Glockengießerfamilien, der den Ingenieur Rupp zur Glocke brachte.

Die Glocke drehen oder nicht drehen, das war die Frage. Fast ein Jahrhundert stritten die zwei Familien, ob es sinnvoll ist, eine Glocke nach jahrelangem Läuten zu drehen, um sie gegen Abnutzung zu schützen. Dann holten sie sich wissenschaftlichen Beistand. Damals, Anfang der Neunziger, forschte Rupp noch in Darmstadt.

Den Familienstreit konnte er nicht eindeutig klären - drehen ist gut und schlecht, je nachdem wie weit die Glocke gedreht wird -, aber er hatte seine Berufung gefunden. Von 2005 an, Rupp war inzwischen in Kempten, förderte die EU seine Glockenstudien. 22 Glocken von acht europäischen Glockengießern hat er in seinem Labor vermessen. Jede Nation hat ihre eigene Klangtradition.

Je weiter es gen Süden geht, desto lauter scheppert es oder wie Rupp sagt: "Der Süden ist mehr von Lebhaftigkeit geprägt." In Italien lassen sie den Klöppel sehr weit ausschlagen, das Geläut fällt dadurch eher schrill aus. Und nebenbei stürzt deshalb auch mal ein Turm ein, erzählt Rupp, so wie am Markusplatz in Venedig. Die Schwingungen einer tonnenschweren Glocke sind nicht zu unterschätzen.

Glocken-Projekt

Die Klöppel: Die Kemptener Experten wissen um ihre wichtige Rolle für einen optimalen Glockenklang.

(Foto: Johannes Simon)

Die Österreicher mögen es ähnlich laut und leidenschaftlich wie die Italiener, sind aber schon etwas gebremst in ihrer Lebhaftigkeit. Deutsche und Schweizer dagegen haben laut Rupp hohe musikalische Ansprüche. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die zwölf Töne genau getroffen werden. So wie perfekte Schönheit erst durch einen kleinen Makel attraktiv wird, klingt eine Glocke dann am besten, wenn die Töne um einen Deut verfehlt werden.

Ist der Klöppel zu schwer, klingt es dumpf und langweilig, ist er zu leicht, tönt es schrill. Nicht zu weich darf er sein, aber auch nicht zu hart. Dort wo er die Glocke "küsst", sollte man den Anschlag sehen, größer als ein Zwei-Euro-Stück aber darf er nicht sein. Der perfekte Klang ist eine Wissenschaft. Eine Lieblingsglocke hat Rupp nicht. Er findet an jeder Glocke Vergnügen - und das nicht nur wegen der Badesamstage aus seinen Kindertagen.

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