Kindheit im KZ:Zeit heilt keine Wunden

Ernst Grube in Dachau, 2012

Ernst Grube in Dachau: Als Zeitzeuge erzählt er in Vorträgen vom Konzentrationslager Theresienstadt.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Der Zeitzeuge Ernst Grube verbrachte seine Kindheit im Konzentrationslager. Seit er vor einem Jahr erneut nach Theresienstadt und Belzec gefahren ist, spürt er wieder die Verzweiflung von damals.

Von Andreas Glas

Ernst Grube wirkt müde. Nicht von den Geburtstagsvorbereitungen, nicht von den Besuchen in den Schulen. Was ihn ins Mark getroffen hat, ist die Reise. Vor einem Jahr ist er an die Orte gefahren, die ihn bis heute nicht loslassen. Den Schülern hat er hundertfach von diesen Orten erzählt - von der eigenen Angst in Theresienstadt, vom Gastod der Verwandten in Belzec. Nie mit Routine, aber doch mit einer gewissen Gewöhnung, das gibt er zu. Die Reise hat alles verändert. Die Gewöhnung ist weg, die Verzweiflung wieder da. Er weiß jetzt, dass Zeit keine Wunden heilt.

Am Sonntag hat Grube in München seinen 80. Geburtstag gefeiert. Eine Woche vorher sitzt er auf dem Sofa in seiner Wohnung in Regensburg. Er sitzt ganz vorne auf der Sofakante, zwischen die angewinkelten Knie hat er seine Hände geklemmt, die eine Tasse Tee umschließen. Er trägt graue Filzpantoffeln und wenn er lächelt, sieht das immer ein bisschen verschmitzt aus, weil seine Augen dann zu kleinen Schlitzen werden. Es ist das Lausbubengesicht eines Mannes, der kein Lausbub sein durfte. Weil nicht er die anderen geärgert hat, sondern die anderen Kinder ihn. Sie haben ihn bespuckt und beleidigt. Weil seine Mutter eine Jüdin war.

Grube ist Zeitzeuge. Zeuge einer Zeit, die für die meisten vorbei ist und für Grube nie vergeht. Als Zeitzeuge besucht er Schulen, Vereine, erzählt auf Veranstaltungen, macht Führungen durch die KZ-Gedenkstätte in Dachau. Er erzählt dann von seinen Kindheitserinnerungen. Erinnerungen, von denen er nicht immer weiß, ob es Erinnerungen sind oder Vergangenheit, die er rekonstruiert hat: "Wenn ich heute Bilder sehe vom Abbruch der Synagoge, dann weiß ich nicht: Habe ich das mit eigenen Augen gesehen oder nicht?" Als die Münchner Synagoge im Juni 1938 abgerissen wird, ist Grube fünf Jahre alt. Und egal, ob er sich nun erinnert oder nicht: Er hat zugesehen. Er musste zusehen. Weil er in der Herzog-Max-Straße gewohnt hat. Dort, wo damals die alte Synagoge stand.

Kurz nach dem Abriss müssen auch der fünfjährige Grube, seine Eltern und seine Geschwister weg aus der Herzog-Max-Straße - weil die Nazis die Häuser der jüdischen Gemeinde "entmieten". Die Kinder werden von ihren Eltern getrennt, kommen in ein jüdisches Kinderheim nach Schwabing.

Von Oktober 1941 an müssen die Heimkinder den gelben Judenstern tragen, dürfen nicht mehr ins Kino, nicht mehr Tram fahren, nicht mehr zur Schule gehen. "Dieser Stern ist wohl der erste Moment der bewussten Erkenntnis gewesen: Die machen was Böses", sagt Grube und erzählt davon, dass er als kleiner Bub plötzlich nicht mehr mitspielen durfte, weil die anderen sagten: "Hau ab, Saujud'!"

Was Grube jetzt schildert, sind keine Rekonstruktionen. Es sind Erinnerungen eines Kindes, das die Welt nicht mehr versteht.

Die Geborgenheit trügt

Die Heimkinder basteln sich eine eigene Welt. Auch der inzwischen achtjährige Grube schließt Freundschaften, um seine Einsamkeit zu teilen, um gemeinsam mit den anderen Kindern der Isolation zu entfliehen. Doch die Geborgenheit trügt. An einem Abend im November 1941 werden 23 Kinder mit dem Bus abgeholt - und nach Litauen gebracht, wo sie von den Nazis umgebracht werden. Grube entgeht diesem Schicksal, weil er "nur Halbjude" ist und sein Vater sich weigert, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen. Doch Anita, Ernst Grubes beste Freundin im Kinderheim, wird deportiert. "Da hat alles geweint", erinnert er sich.

Grube erzählt schon eine Stunde lang. Die Hände klemmen immer noch zwischen den Knien und halten die Teetasse umschlossen. Die Tasse ist noch voll, er hat keinen Schluck getrunken. Der Tee ist kalt. Inzwischen hat sich Helga Hanusa zu ihm gesetzt, seine Frau. Sie kennt die Erzählungen ihres Mannes, hat alles schon hundertmal gehört - und hört trotzdem zu, als Grube von Milbertshofen erzählt. Vom engen, feuchten Barackenlager, in das die Heimkinder im Frühjahr 1942 gebracht werden.

Er hat nicht gesehen, wie nach und nach Jüdinnen und Juden abgeholt und nach Theresienstadt gebracht wurden. Aber er hat die Schreie gehört, die Unruhe gespürt. Ob er Todesangst hatte? "Nein", sagt Grube, "es braucht keine Todesangst, wenn man ausgegrenzt und diskriminiert wird. Es braucht keine Todesangst, wenn man keinen Blick mehr für die Zukunft hat."

Vom Leben ausgegrenzt, entwürdigt, ohne Zukunftsperspektive - all das, sagt Grube, gibt es noch immer, auch in München. Er meint das Elend vieler Flüchtlinge, die unter teils menschenunwürdigen Bedingungen in Asylunterkünften leben: "Zu viert, zu fünft oder zu sechst in einem kleinen Zimmer, wo gerade so die Betten reinpassen. Es ist wichtig, das Elend dieser Menschen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen", sagt Grube. Das ist auch Teil seiner eigenen Öffentlichkeitsarbeit.

Wenn Grube in Schulen von damals erzählt, dann auch um bewusst zu machen, dass heute noch Minderheiten erniedrigt werden: Ausländer, Behinderte, Hartz-IV-Empfänger. "Denn es fängt immer klein an", sagt er. So wie damals: Am Anfang wurde geschimpft und gespuckt, am Ende gefoltert und gemordet.

Zeitdokumente - bis zur Erschöpfung

Konzentrationslager Theresienstadt KZ Scherl / SZ Photo

Foto: Scherl / SZ Photo

Anfang 1945 wird Grube mit seinen beiden Geschwistern und seiner Mutter ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Die Befreiung durch die Rote Armee rettet ihm und seiner Familie das Leben. Im Juni 1945 kehrt er nach München zurück, wird Malermeister wie sein Vater, holt das Abitur nach und wird Berufsschullehrer. Es dauert Jahrzehnte, bis er offen über seine Erlebnisse sprechen kann. Inzwischen hat er Tausenden jungen Menschen von den Verbrechen der Nazis erzählt. Als Zeitzeuge, auch wenn er den Begriff nicht mag. Weil der Begriff nicht unterscheidet zwischen Tätern und Opfern. Und Grube weiß, wie es ist, wenn Opfer zu Tätern gemacht werden. Er weiß das aus eigener Erfahrung.

Anfang der 50er Jahre nimmt Grube in München an den Protesten gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik teil - und wird wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt zu sieben Monaten Haft verurteilt. Ein paar Jahre später muss er für neun Monate in Isolationshaft, weil er Flugblätter für die verbotene KPD verteilt.

Und 55 Jahre danach, im Jahr 2010, wird er im Verfassungsschutzbericht als Sprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) namentlich erwähnt - weil er im Verdacht steht, Kontakte zu Linksextremisten zu haben. Ausgerechnet jener Mann, der an Schulen für die Menschenwürde wirbt, soll ein Feind der Verfassung sein, ein Täter?

Mit den wahren Tätern beschäftigt sich Grube seit einiger Zeit besonders. Seit seiner Reise in die Vergangenheit. Es ist vor allem eine Frage, die ihn martert wie nie zuvor: "Wie konnten die Menschen, die diese Verbrechen organisiert haben, die alten Nazis, nach 1945 wieder in öffentliche Ämter kommen?" Stundenlang liest er Bücher darüber, seziert Zeitdokumente - bis zur Erschöpfung. "Ich merke, dass er manchmal völlig geschafft ist", sagt seine Frau. "Er sagt dann: Ich kann nicht mehr weiterlesen. Das höre ich jetzt öfter als vorher."

Vorher, das war vor der Reise. Im November 2011 besuchten Grube und seine Frau jene Orte, an die Münchner Juden deportiert wurden. Sie reisten ins ehemalige KZ nach Theresienstadt. Ins polnische Izbica. Dorthin, wo Juden aus ganz Europa in Ghettos gepfercht wurden und wo sich die Spur seiner Tante Erna verliert.

Nach Piaski, wo Grubes Tante Rosa war und wo die Nazis 2000 jüdische Menschen erschossen, weil die Waggons zum Vernichtungslager voll waren. Ins Vernichtungslager Majdanek, wo Tausende Kinder vergast wurden. "Diese Assoziation Kind, Gas, Tod am Ort zur erleben, das ist etwas anderes, als ob man darüber redet", sagt Grube. Die letzte Station der Reise ist Kanuas - jener Ort, an dem Grubes Freundin Anita und die anderen Heimkinder ermordet wurden.

Wenn Ernst Grube jetzt als Zeitzeuge in die Klassenzimmer geht, hat er "einen Knödel im Hals, was vor der Reise nicht so war. Ich habe jetzt ein Problem, wenn ich den Schülern die Folie von der Mauer in der Gedenkstätte Belzec zeige, an der die Vornamen meiner Cousins und Cousinen eingraviert sind." Auch seine Frau merkt, "dass ihn das sehr packt. Das ist wie ein neues Spüren". Die Reise hat alles verändert.

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