Kindesmisshandlung:Gestürzt oder geschlagen?

Spuren körperlicher Gewalt sind häufig schlecht zu unterscheiden von jenen eines Unfalls. Viele Ärzte sind deshalb unsicher, wann sie bei verletzten Kindern Alarm schlagen sollen.

Katja Riedel

Sechs Monate ist er alt, der blonde Junge, dessen Bild überlebensgroß auf die Leinwand projiziert ist; seine Beine sind blau, gelb und rot, gesprenkelt mit Blutergüssen, mit Schürfwunden. Von der Couch sei er gefallen, auf den Teppichboden, sagen die Eltern, die ihn in die Ambulanz einer Kinderklinik gebracht haben. Kann das sein? Passen Verletzung, Erklärung, Verhalten von Eltern und Kindern zu dieser Geschichte?

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Ob es sich bei kindlichen Verletzungen um Spuren eines Unfalls oder körperlicher Gewalt handelt, können Ärzte oftmals nicht feststellen.

(Foto: Foto: AP)

Martina Heinrich, Ärztin an der Haunerschen Kinderklinik in München, hat sich diese Fragen nicht nur bei diesem Kind gestellt. Von etwa 10000 Kindern, die in der Ambulanz jährlich vorgestellt werden, stoßen Heinrich und ihre Kollegen bei etwa 15 Kindern auf Widersprüche zwischen Befund und angeblicher Erklärung.

Sie untersuchen dann, woher diese Verletzungen wirklich stammen. Am Ende erfahren die Ärzte dann oft traurige Geschichten von Gewalt und Vernachlässigung. Von Schlägen, von Haushaltsgeräten, die Spuren auf der Kinderhaut hinterlassen haben. Geschichten von überforderten Eltern.

Seit zwei Jahren sind alle bayerischen Ärzte auch per Gesetz verpflichtet, sich diese Fragen zu stellen. Wie sie müssen auch Entbindungspfleger und Hebammen die Jugendämter informieren, sobald ihnen "gewichtige Anhaltspunkte" für Misshandlungen, Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch bekannt werden.

Zu dem Gesetz hatte sich die Bayerische Staatsregierung entschlossen, weil sich bundesweit Fälle gehäuft hatten, bei denen Kinder oft über Jahre gequält wurden. Manche, wie der zweijährige Kevin aus Bremen, starben, obwohl die Behörden von ihren Leiden wussten. Das soll das Gesetz verhindern. Doch zunächst hat es ein Problem offengelegt: Ärzte sind nicht dafür geschult, diese gewichtigen Anhaltspunkte auch zu erkennen.

Viele Mediziner wissen nicht, wie sie unterscheiden können, ob ein Kind sich bei einem Unfall verletzt hat oder Opfer einer Misshandlung geworden ist. Sie fragen sich außerdem, wann die kritische Schwelle überschritten ist, die es ihnen erlaubt, auch gegen den Willen der Eltern das Jugendamt zu informieren und somit ihre Schweigepflicht zu brechen.

Um diese Unsicherheiten zu beseitigen, hatte der Ärztliche Kreis- und Bezirksverband München (ÄKBV) am vergangenen Freitag mehr als 120 Kollegen in den Hörsaal des Haunerschen Kinderspitals in München geladen. Bei der Tagung versuchten Kinderärzte, Gerichtsmediziner, Psychologen, Vertreter der Jugendhilfe und des Sozialministeriums, sich über Kriterien auszutauschen, um Missbrauch frühzeitig zu erkennen.

Eindeutige Symptome und Diagnosen fehlen

Wer sich von den Vorträgen klare Handlungsanweisungen erhofft hatte, wurde enttäuscht. Für Misshandlungen und Missbrauch gibt es keine eindeutigen Symptome und Diagnosen. Es gibt nur Anzeichen, die mit Vorsicht zu deuten sind. Ob eine Verbrühung, ein Bruch oder ein blauer Fleck bei einem Sturz oder durch Schläge entstanden sind, lässt sich nur mit aufwendigen Untersuchungen und Verhaltensbeobachtungen herausfinden; manchmal auch nie.

Die meisten Kinder, die in den Notfallambulanzen behandelt werden, können zudem selbst noch nicht berichten, was ihnen widerfahren ist. Sie sind jünger als drei Jahre; mehr als die Hälfte sind sogar noch Säuglinge. Anders als es die Berichte über sexuellen Missbrauch in den Kirchen vermuten ließen, fänden 80 Prozent der körperlichen und seelischen Misshandlungen zu Hause statt, betonte Hermann Gloning, Vorsitzender des Arbeitskreises Frühe Hilfen des ÄKBV. Diesen Expertenrat hatte der Verband eingesetzt, um der gestiegenen Verantwortung gerecht zu werden, die Ärzten künftig bei der Missbrauchprävention zukommt.

Noch hilfloser als dem Verdacht der körperlichen Gewalt begegnen Mediziner dem sexuellen Missbrauch. Der Nachweis fällt hier weit schwerer. Wie schwer, berichteten Rechtsmedizinerin Elisabeth Mützel und Gynäkologe Nikolaus Weissenrieder.

Es bedürfe großer Erfahrung, um Erkrankungen des Genitalbereiches, Verletzungen, die etwa beim Spielen passieren können, sowie sichtbare Anzeichen sexuellen Missbrauchs voneinander zu unterscheiden. "Die meisten Kinder weisen nach sexuellem Missbrauch rein körperlich einen Normalbefund auf", sagte Mützel. Die Täter wüssten, wie weit sie gehen könnten, ohne eindeutige Spuren zu hinterlassen. Auch die psychischen Symptome bei den Kindern seien unspezifisch, sagt Weissenrieder.

Die Vertreterin des Sozialministeriums, Isabella Gold, zeigte Verständnis, dass Ärzte verunsichert seien, wann sie sich über den Willen der Eltern hinwegsetzen können, um womöglich ein Kind zu schützen. Ärzte sollten es aber wagen, einen begründeten Verdacht den Jugendämtern zu melden. "Das Elternrecht hört dort auf, wo das Kinderrecht gefährdet ist", sagte Gold.

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