Historische Berichte:Was Ärzte über die Bayern im 19. Jahrhundert niederschrieben

Historische Berichte: Die Berichte befassten sich ebenfalls mit Topografie und Klima, aber auch mit der Infrastruktur etwa der Illerbrücke in Ferthofen.

Die Berichte befassten sich ebenfalls mit Topografie und Klima, aber auch mit der Infrastruktur etwa der Illerbrücke in Ferthofen.

(Foto: Wißner-Verlag/Bezirk Schwaben)

Pfiffig und verschmitzt sei etwa der Allgäuer. In ihren Physikatsberichten dokumentierten Mediziner das Leben und Sterben der Bevölkerung - gespickt mit ihren persönlichen Vorurteilen.

Von Stefan Mayr, Kempten

Der Befund des Dr. Friedrich Kollmann über "das weibliche Geschlecht" ist gnadenlos direkt und uncharmant: "Man findet selten feine, edle Gesichtszüge", schreibt der königliche Gerichtsarzt von Weiler, "dagegen sehr häufig unangenehme Gesichtsbildungen, plumpe Körpermassen, fettig aufgetrieben, oder hin zum Auffallenden hager, knochig."

Dem Herrn Doktor zufolge "altern die Weiber gewöhnlich sehr rasch". Dies stehe im "merklichen Contrast zu ihrem noch im Saftigsten schönsten Mannsalter stehenden Gatten". Überhaupt scheint Friedrich Kollmann von den Mannsbildern ungleich mehr angetan zu sein als von den Frauen: "Hie und da trifft man wahrhaft herkulische Gestalten, von einer riesigen Muskelentwicklung wie sie nur der, welcher unter schwerer Arbeit sein Leben in frischer Luft zubringt, aufzuweisen hat."

Friedrich Kollmanns Expertise stammt aus dem Jahr 1861. Sie mag zwar noch so subjektiv klingen, ist aber eine hochoffizielle, amtliche Stellungnahme. Damals hatte jeder bayerische Amtsarzt einen "Physikatsbericht" aus seinem Bezirk zu verfassen, auf dass sich die Obrigkeit ein Bild machen kann vom Leben und Sterben in ihrem Land. Diese Berichte sind für Historiker ein reicher Quellenschatz, und für Nichtwissenschaftler eine grandiose Fundgrube. Manche Passagen sind für den heutigen Leser amüsant, andere kurios oder gar erschreckend. Sie bieten einen authentischen Blick auf den Alltag von damals, festgehalten von Zeitgenossen. Also das pralle Leben im Allgäu vor 150 Jahren absolut unverfälscht - von den Vorurteilen der Verfasser einmal abgesehen.

"Die Kleidungsweise vom männlichen und weiblichen Geschlechte ist jetzt das geschmacklose unmoralische französisch-deutsche Durcheinander", stellt Doktor Kollmann fest. Er schreibt von der "verpfuschten städtischen Mode", die "mit dem Bauerngeschmack wo möglich noch erbärmlicher verhunzt" werde. Die Amtsärzte beschränken sich in ihren Berichten nicht auf medizinische Fakten, sondern beleuchten das ganze Leben. Topografie und Klima, Heilpflanzen und Hausbau, Wohnsituation und Ernährung, Gebräuche und Unsitten. Sie kriechen bei ihren Mitmenschen sozusagen bis unters Bett: Auch die Reinlichkeit und das Sexualleben werden untersucht. Und der Charakter.

So ist der Schwabe

"Was die intellektuelle Constitution betrifft", so findet Kollmann das Sprichwort zutreffend, "wonach die Schwaben und hauptsächlich die Allgäuer als pfiffig, verschmitzt, schlau gerühmt werden". Der Allgäuer betreibe sein Geschäft "mit Fachkenntniß und Umsicht", er "spekulirt, wo nur immer ein Gewinn voraus zu berechnen ist, mit ziemlichem Scharfblick". Und er "macht sich dann aber auch wenig Gewissen darüber, ob er seinen Nachbar dabei übervortheilt hat, oder nicht." So ist er der Schwabe, nach Ansicht Kollmanns.

In Bayern liegen 284 solcher Physikatsberichte vor, sie werden seit den 1990er Jahren ediert. Die Bezirksheimatpflege Schwaben veröffentlicht ihre Dokumente seit 2011 nach und nach. Der neueste Band - zusammengestellt von Gerhard Willi - ist besonders spannend, weil er gleich drei unterschiedliche Lebensräume abdeckt: das Hochgebirge im Oberallgäu, die Stadt Kempten und den Bodensee-Raum.

"Story Stefan Mayr Physikatsberichte Allgäu, Grundsteinlegung Nebelhornhaus 1889, Foto: www.fotohaus-heimhuber.de"

Das Leben und die Arbeit waren Ende des 19. Jahrhunderts, also wenige Jahrzehnte nach den Physikatsberichten, für die Menschen noch immer hart, wie bei der Grundsteinlegung für das Nebelhornhaus 1889 zu sehen ist.

(Foto: Fotohaus Heimhuber GmbH)

Der Titel des Buches "Volks- und landeskundliche Beschreibungen aus den Landkreisen Lindau und Oberallgäu mit Kempten" klingt sperrig. Aber die Lektüre ist spannend ohne Ende. Obwohl die Berichte auch mit Vorsicht zu genießen sind, wie Bezirksheimatpfleger Peter Fassl in seinem Vorwort anmerkt: Sie seien "prall von Vorurteilen und Stereotypen", ihr besonderer Reiz liege "in der offenen, freien, zum Teil schonungslosen Subjektivität der Äußerungen und Beobachtungen".

Der Leser von heute blickt in eine andere Welt. Das gilt etwa für den Umgang mit der hohen Kindersterblichkeit. Wenn ein Säugling stirbt, "gratuliren" die Mütter einander "zum Engel im Himmel und gönnen demselben diesen glücklichen Aufenthaltsort gar gerne", schreibt der Amtsarzt von Kempten-Land. Mit Bedauern notiert Dr. Karl Georg Karrer, dass kaum eine Mutter eines kranken Kindes den Arzt aufsucht. "Sie begnügen sich wie die ärmern mit Frauenrath und rufen höchstens die Hebamme." Der Arzt werde "gar oft zu spät und wirklich nur in Ausnahmsfällen" konsultiert. "Hoffen wir auch hierin auf besseres in der Zukunft", schreibt Karrer.

Manches ändert sich in Bayern nie

Es ist nicht die einzige Sorge, die die Ärzte zu Papier bringen. Sie kritisieren die Kinderarbeit und dass viele Mütter ihre Babys kaum mehr stillen. Sorgen machen ihnen auch die Arbeits- und Lebensbedingungen des aufkommenden Proletariats, das aus allen Himmelsrichtungen nach Kempten strömt und sich in den Fabriken verdingt. Die Arbeiter der Zündholzfabrik bekommen wegen der Phosphordämpfe "Geschwüre und Knochenfraß", viele Kieferknochen müssen "entfernt" werden.

Karl Hartmann, der Amtsarzt des Bezirkes Kempten-Stadt, berichtet von unmenschlichen Wohnverhältnissen. In manchen Häusern befinde sich der Abort "so zusagen mitten zwischen den Wohnungsräumen ohne Luftzutritt von Außen" und es sei "nicht abzusehen, wie solcher Unflätigkeit abgeholfen werden könnte". Viele Wohnungen seien "über alles Maaß schlecht, feucht und dumpfig" und gleichzeitig aber zu einem "exorbitanten Preis" vermietet. Es scheint auch Phänomene zu geben, die sich in Bayern nie ändern.

In Sachen Sexualität haben die Amtsärzte bezirksübergreifend keinen großen Anlass zur Klage. "Geschlechtsausschweifungen sind gerade nicht so gar selten", protokolliert einer, "doch können sie nicht als besonders augenfällig bezeichnet werden." Andere Freizeitbeschäftigungen werden ausführlicher beschrieben. "Sehr viel wird vom Kartenspiele Gebrauch gemacht, theils zu Hause theils im Wirthshause", heißt es, "wo dann die üble Sitte dem Verbrauch von Bier und Schnapps dem Verlierenden zur Bezahlung aufzubürden oft üble Folgen als Streit und selbst Körperverletzungen nach sich zieht."

Wie befohlen schicken die Ärzte ihre Berichte bis Ende 1861 an die Regierung. Und dann geschieht Sonderbares. Der Kreismedizinalrat formuliert eine Zusammenfassung und stellt dabei die Fakten auf den Kopf: "Praktisch sämtliche kritischen und negativen Äußerungen werden weggelassen bzw. umgewertet", schreibt Heimatpfleger Fassl. Die Unreinlichkeit, die moralischen Defizite oder der Aberglaube - sie "fallen durch das Raster der Vorzensur", wie Fassl es formuliert. Die Staatsbeamten wollen nicht, dass der aufgeklärte Norden sein Urteil über den rückständigen Süden bestätigt bekommt. All der Aufwand ist zunächst für die Katz. Bis mehr als 100 Jahre später Historiker die Berichte entdecken und für die Nachwelt erschließen.

Gerhard Willi: Volks- und landeskundliche Beschreibungen aus den Landkreisen Lindau und Oberallgäu mit Kempten. Die Physikatsberichte der Stadt- bzw. Landgerichte Lindau, Weiler, Kempten, Immenstadt und Sonthofen (1858-1861), Wißner-Verlag, 592 Seiten, 34,80 Euro.

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