Kartelle im Gefängnis:Wie die Russenmafia den Knast kontrolliert

Gewalt, Drogen, Geheimsprache: Die Russenmafia beherrscht den Drogenhandel in den 42 bayerischen Gefängnissen. Behörden und Justizvollzugsbeamte wissen davon nichts - oder sehen weg. Ein ausgestiegener Drogenboss erzählt, wie es im Knast tatsächlich zugeht.

Oliver Hollenstein

Verfassungsgericht verhandelt über Sicherungsverwahrung

Behörden und Justizvollzugsbeamte merken oft nicht, welche Geschäfte die Russenmafia im Knast macht. Oder sie wollen es nicht merken.

(Foto: dpa)

Die Jungfrau Maria sieht dilettantisch aus. Eine Strichzeichnung, eine Skizze bestenfalls. Die Linien der Heiligen mit dem Jesuskind sind schlecht geführt, die Farbe unterschiedlich ausgebleicht. Alexej Petrow ist trotzdem stolz auf sein erstes Knast-Tattoo. "Das bedeutet, dass ich zwar erst im Jugendknast bin, aber mich nach oben arbeiten werde", sagt er und zieht sein T-Shirt wieder über den Bauch.

Jedes Gefängnis-Tattoo hat eine Bedeutung. Es ist eine Art Vertrag zwischen dem Einzelnen und der Knastgemeinschaft. Alexej Petrow hielt sein Versprechen: Er arbeitete sich nach oben, bis er die rechte Hand des Mannes war, den sie im Gefängnis nur "den Boss" nannten. Petrow organisierte für die Russenmafia in einem bayerischen Gefängnis die Drogenlieferungen. Vor einigen Monaten brach er alle Versprechen. Er stieg aus. Seine Geschichte gibt einen äußerst seltenen Einblick in die Welt hinter Gefängnismauern, in einen rechtsfreien Raum im Herzen unseres Rechtsstaates.

Petrow sitzt in einem Straßencafé im Ausland. Er sagt "Wir", wenn er von der Russenmafia, den Kameraden im Gefängnis oder den Wegen der Drogenschmuggler spricht. Aber ein "Wir" gibt es nicht mehr. Petrow, der wie alle Personen in dieser Geschichte eigentlich anders heißt, hat gegen seine Kameraden ausgesagt, einige wurden zu Haftstrafen von mehr als zehn Jahren verurteilt. "Ich habe gegen die erste, die wichtigste Regel verstoßen", sagt er. Das Zeugenschutzprogramm, das reiche nicht, deswegen sei er im Ausland. Von einem Moment auf den anderen werden seine freundlichen blauen Augen eiskalt, die Pupillen verengen sich. "Bei uns steigt niemand aus."

Die Russenmafia kontrolliert den Drogenhandel in den 42 bayerischen Gefängnissen. Das erzählen ehemalige Insassen, das wissen aber auch die Experten der Behörden. In die Öffentlichkeit drängt die Situation in den Gefängnissen trotzdem nur, wenn es wieder einmal einen Suizid, eine Massenschlägerei oder einen Hungerstreik gibt. Das ist selten. Gewalt aber scheint im Knast Alltag zu sein. In einer Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer gab jeder vierte befragte Gefangene in vier norddeutschen Bundesländern an, regelmäßig Opfer von psychischer oder körperlicher Gewalt zu werden.

Für Bayern gibt es keine Zahlen. Aber zwei Fakten: In keinem Bundesland sitzen im Verhältnis zur Bevölkerung so viele Menschen in Gefängnissen. Und in keinem Bundesland muss ein Justizvollzugsbeamten so viele Insassen beaufsichtigen. 5260 Beamte passen auf knapp 9500 Gefangene auf. Nach Veröffentlichung der Studie ließ Justizministerin Beate Merk klarstellen: "Unsere Beamten sind geschult, hinzuschauen und konsequent zu reagieren."

Alexej Petrow lacht auf, als er das Zitat der Ministerin hört. "Die Beamten sehen nichts. Und sie wollen auch nichts sehen." Knapp zwölf Jahre hat Petrow in verschiedenen bayerischen Gefängnissen verbracht. Nach dem Tod des Vaters kam er mit der Mutter aus Russland nach Deutschland. Das war 1996. Zwei Jahre später, mit 19, landet er zum ersten Mal im Jugendarrest. Er hatte mit Drogen gedealt. Petrow sprach kaum Deutsch. Draußen fand er keine Freunde, doch im Gefängnis gehörte er schnell dazu. Er war clever, konnte reden und Dinge organisieren. So machte er Karriere. "Es ist im Prinzip wie eine Ausbildung im normalen Leben", sagt er heute. "Man kommt als Lehrling. Und wenn du bei uns warst, gehst du als Meister."

Die Russen halten zusammen

Glaubt man den Erzählungen von Petrow, war das Leben hinter Gittern ziemlich lukrativ. 2000 Euro habe er am Ende aus seinen Einkünften jeden Monat an seine Mutter überwiesen, nach der letzten Strafe, vier Jahre, außerdem mehr als 20.000 Euro für sich selbst angespart. Aber kann man Petrow glauben? Ja, sagen Menschen, die ihn und seinen Fall kennen. Ja, sagen auch Menschen, die sich mit der Russenmafia auskennen.

Auch wenn die Mauern hoch und der Stacheldraht üppig sind: Die Russenmafia schafft es, Handys und Drogen in den Knast zu schmuggeln.

Auch wenn die Mauern hoch und der Stacheldraht üppig sind: Die Russenmafia schafft es, Handys und Drogen in den Knast zu schmuggeln.

(Foto: dpa)

Es ist das System des "heiligen Abschtschjaks". Der Abschtschjak ist die Gemeinschaftskasse der Russen im Knast. Jeder von ihnen muss einen Teil seines Taschengelds einbezahlen. Von dem Geld werden Kaffee und Zigaretten gekauft, aber auch Anwälte bezahlt. Die Kasse ist der Kitt, die Grundlage für klare Regeln, Hierarchien und das Geschäft.

Aber wie können die Männer so viel Geld verdienen? "Wir halten zusammen, wir sind clever - man muss Psychologie verstehen", sagt Petrow. Das "Geschäftsmodell" hat tatsächlich viel mit Psychologie zu tun. Genauer gesagt mit Bedürfnissen, Ängsten, vor allem aber mit Abhängigkeiten. Die erste und wichtigste ist die Drogensucht der meisten Insassen. Sie ist gewissermaßen der Einstieg in die Subgesellschaft Gefängnis: Die Russen schmuggeln Drogen rein und verkaufen sie. Für 600 bis 800 Euro ein Gramm Heroin, das draußen 100 Euro kostet. Für 200 Euro eine Tablette des Schmerzmittels Subutex. Viel Geld für die Gefangenen, die monatlich 30 Euro Taschengeld ausgeben dürfen, 80 Euro, wenn sie im Gefängnis arbeiten - und dieses Geld eigentlich schon vollständig für Zigaretten brauchen.

"Viele können nicht ohne Stoff", sagt Petrow. Das nutzen die Russen geschickt aus. Die Bezahlung der Drogen läuft meist über Konten außerhalb des Gefängnisses. Angehörige werden per Handy oder beim Besuch mit dem Geldtransfer beauftragt. "Wir sind hart, aber fair", sagt Petrow und erklärt: Wer sich gut mit den Russen verstehe, bekomme mal einen Schuss gratis. Wer knapp bei Kasse ist, einen Kredit. Es ist der zweite Schritt ins System der Russen.

Wie schnell man Teil dieses Systems wird, hat auch Florian Koch erfahren. Die riesigen Hände des 24-Jährigen wirken viel zu groß für die kleine Cola, die sie umklammern. Koch war zwei Jahre im gleichen Gefängnis wie Petrow. Mit 17 saß er zum ersten Mal. Wegen einer Reihe von Verbrechen, unter anderem schwerer Körperverletzung. "Ich war damals ziemlich fertig, habe viel gekifft", sagt er, seine unsicheren Augen suchen Halt an der Decke. "Aber mit härteren Drogen hatte ich nichts zu tun." Das änderte sich. Seinen ersten Schuss Heroin setzte Koch sich im Knast. "Ich habe die anderen gefragt, warum sie so gut drauf sind. Dann wollte ich es ausprobieren." Er war der Jüngste, bekam einen Sonderpreis. Es war der erste Schritt in größere Schwierigkeiten.

"Du musst dich um deine Leute kümmern da drin, wenn du nach oben kommen willst", sagt Alexej Petrow. "Bei Drogenlieferungen ist die goldene Regel: Ein Drittel, zwei Drittel." Ein Drittel wird an die eigene Gruppe und gute Kameraden verschenkt, zwei Drittel verkauft. Jeder könne dann selbst entscheiden, ob er konsumiere oder weiterverkaufe. Doch die Geschenke und Rabatte werden nicht vergessen. "Wenn du dann draußen bist, arbeitest du für uns."

Sie kommunzieren mittels Geheimsprache

Justizvollzugsanstalt Straubing: Knast der Schwerverbrecher in Bayern.

Justizvollzugsanstalt Straubing: Knast der Schwerverbrecher in Bayern.

(Foto: Carmen Wolf)

Das galt auch für seine eigene Karriere: Jedes Mal, wenn Petrow raus kam, wurde er nach einigen Monaten wieder mit großen Mengen Drogen erwischt. Genau wie Florian Koch. Kurz nach ihrer Entlassung kehrten sie immer wieder in den Knast zurück. Sie sind keine Einzelfälle. Zwei Drittel der Straftäter in bayerischen Gefängnissen verbüßen eine Strafe von weniger als zwei Jahren, aber für mehr als die Hälfte ist es nicht die erste Haftstrafe. "Manchmal habe ich gedacht: Drinnen komme ich besser klar als draußen", sagt Florian Koch. "Man hat dort doch alles - außer Frauen und Freiheit."

Igor Semjonow ist der Mann, den sie im Gefängnis "den Boss" nannten. Ein kleiner, drahtiger Mann mit Narben im Gesicht. Wie er und seine Komplizen unter ständiger Aufsicht des Staats ein Drogenkartell aufrechterhielten, konnte man vor einigen Monaten bei einem Prozess an einem bayerischen Landgericht verfolgen. Die Staatsanwaltschaft wirft Semjonow Drogenhandel und Bildung einer kriminellen Vereinigung vor. Hunderte Stunden Handygespräche aus dem Knast haben die Ermittler mitgeschnitten.

Semjonow fläzt sich mit in einem Trainingsanzug auf seinem Klappstuhl in der Anklagebank, seine tätowierten Finger spielen mit einem Rosenkranz. Neben ihm sitzt ein Übersetzer und schüttelt den Kopf. "Das ist kein normales Russisch, das ist völlig ungrammatisch", sagt er, nachdem eine Gesprächspassage zum dritten Mal vorgespielt wurde. "Das kann man als Außenstehender nicht verstehen." Igor Semjonow grinst und schweigt. Kooperiere niemals mit dem Staat. Es ist die erste Regel, das ist bei der Russenmafia so wie bei jeder anderen kriminellen Organisation.

Alexej Petrow hat das ungeschriebene Gesetz der Russenmafia gebrochen, die Anklagen gegen seine Kameraden beruhen vor allem auf seinen Aussagen. Über die Verzweiflung des Übersetzers grinst er spitzbübisch wie ein kleiner Junge. "Wir haben unsere eigene Sprache. Wir sprechen ein eigenes Russisch. Und wir haben geheime Codes. Ich sage zu meinem Bruder: Ich bin krank, der Arzt hat mir 20 Tabletten aufgeschrieben. Dann weiß er: Er soll 2000 Euro an ein bestimmtes Konto überweisen. Ganz einfach."

Für die Russen seien die Drogen im Knast aber grundsätzlich umsonst, sagt Petrow und lacht wieder. Es ist ein einfaches Prinzip: "Ich organisiere Drogen beispielsweise in Holland. Dann rufe ich einen Kollegen draußen an. Der fährt dorthin, bezahlt alles. Die Hälfte schickt er mir kostenlos rein, die andere Hälfte kann er auf eigene Kasse verkaufen, um das Geld wieder reinzubekommen."

Und wie kommen die Drogen ins Gefängnis? Und die Handys, mit denen das alles organisiert wird? "Über Besucher, Außenarbeiter oder Lieferungen", sagt Petrow. "Es ist ein Spiel mit den Aufsehern: Wir werden besser, sie werden besser, wir werden besser. Aber wir haben die Nase vorn." Er selbst habe sich nach oben gearbeitet, weil er einen eigenen Weg gefunden habe. "Ich habe einen Fahrer gefunden. Der hat in der Firma gearbeitet, die Schrauben für die Gefängniswerkstatt gebracht hat." Ein Komplize draußen habe Handys und Drogen in den Kisten versteckt, die seine Kameraden drinnen dann beim Ausladen wieder rausgeholt hätten.

Ein Spray - und die Drogenhunde riechen nichts

Die fehlende Freiheit kompensieren viele Gefängnisinsassen mit Drogen.

Die fehlende Freiheit kompensieren viele Gefängnisinsassen mit Drogen.

(Foto: dpa)

Und die Drogenhunde haben nie etwas gefunden? "Nee, der Stoff wird gut eingepackt und dann mit so einem Spray eingesprüht. Das kommt aus Holland, ist aus Ammoniak. Dann riechen die Hunde nichts mehr." Über Jahre seien auf diesem Weg Hunderte Handys und kiloweise Drogen in das Gefängnis geschmuggelt worden, sagt Petrow.

In gewisser Weise sorgt gerade die Vorherrschaft der Russen dafür, dass es wenig offene Gewalt im Gefängnis gibt. Revierkämpfe, sichtbare Konflikte seien selten, sagen ehemalige Insassen. Die zweite Regel im Knast, erklärt Petrow: "Kläre deine Probleme niemals selbst." Schlägereien gibt es nur, wenn der Boss sie auch genehmigt. Und selbst dann gibt es klare Regeln: "In der Zelle, drei feste Schläge. Entweder auf Nieren, Bauch oder Herz. Das ist eine Lektion, die meisten haben es dann gelernt." Wenn es doch mal zu Gewaltausbrüchen kommt, dann seien das meist Streitereien von Hitzköpfen, die dafür auch bestraft würden.

Und die Justizbeamten? "Die kriegen das alles nicht mit. Dafür sind sie zu wenige", sagt Florian Koch. Denen könne man keinen Vorwurf machen. "Die sind nett, die können doch gegen das System da auch nichts machen." Fragt man Beamte und Gefängnisseelsorger selbst, bestätigen sie das. Offen äußern möchte sich keiner. Auch sie fühlen sich nicht sicher: "Die Russen sind so gut vernetzt, auch nach draußen. Da hast du Angst, dass dir was passiert - und es niemand rauskriegt."

Eine Chance hat der Staat nur, wenn einer plaudert, die Gemeinschaft verrät. Einer wie Alexej Petrow. Doch das ist selten. "Ich wusste, das ist meine letzte Gelegenheit", sagt Petrow und trinkt den letzten Schluck seines Kaffees. Er ist jetzt 32 Jahre alt, ein gut aussehender, intelligenter Mann. "Ich habe ein halbes Jahr überlegt." Hätte er nicht ausgepackt, hätte er wohl für Jahre zurück ins Gefängnis gemusst. Aber er hat jetzt eine Frau, ein Kind. "Ich trage Verantwortung", sagt er. "Ich habe ein neues Leben."

Sein altes Leben bleibt aber immer dabei. Täglich erinnern ihn die Tattoos überall auf seinem Körper an die Verträge, die er mit seinen Kameraden geschlossen hat. Er zieht sein T-Shirt nach unten. Auf der linken Brust prangt ein Tiger mit offenem Maul, zum Sprung ansetzend. "Das heißt: Ich rede niemals mit einem Beamten", sagt er und zum ersten Mal blitzt so etwas wie Unsicherheit in seinen Augen auf.

Hat sich seine Aussage gelohnt? Für ihn? Für den Staat? Gibt es nun keine Russenmafia mehr in dem Gefängnis, in dem er saß? Petrow lacht. "Doch, natürlich. Da sind nur ein paar Leute weg. Aber das machen jetzt halt andere. Das System überlebt immer."

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