Justiz:In Bayern sind 25 000 Straftäter auf freiem Fuß

Telefonüberwachung potenzieller Einbrecher

Die meisten der untergetauchten Täter werden wegen Diebstahls und Unterschlagung gesucht.

(Foto: dpa)
  • In Bayern sind fast 25 000 Straftäter auf freiem Fuß.
  • Das sind rund ein Viertel aller offenen Haftbefehle in ganz Deutschland.
  • Bei den meisten Taten geht es um Diebstahl und Unterschlagung, gefolgt von Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz und Betrug.

Von Toni Wölfl

In Bayern sind annähernd 25 000 Straftäter auf freiem Fuß. Das entspricht etwa einem Viertel aller offenen Haftbefehle in ganz Deutschland. Das belegen die Zahlen, die aus einer Antwort des bayerischen Justizministeriums auf eine Anfrage des SPD-Landtagsabgeordneten Peter Paul Gantzer hervorgehen. Die meisten der untergetauchten Täter werden demnach wegen Diebstahls und Unterschlagung gesucht, gefolgt von Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz und Betrug. Außerdem sind 202 Fälle von Mord und Totschlag darunter.

"Die Justiz ist zu nachlässig", kritisiert der Abgeordnete Gantzer. "Da offenbart der Rechtsstaat eine Schwäche, die Straftäter ausnutzen. Das ruft Frust hervor bei Polizisten und Bürgern." Die Situation könne niemanden zufriedenstellen, sagt Gantzer. Dass in Bayern im deutschlandweiten Vergleich besonders viele Haftbefehle offen sind, habe zwei Seiten: "Es zeigt: Wir kümmern uns drum, wir verfolgen jede Straftat. Konsequent aber wäre es, die Strafen auch zu vollstrecken." Gantzers Forderung: "Die Justizvollzugsanstalten brauchen mehr Leute, vieles wird auf Polizisten abgewälzt."

Denn diese sind zuständig für die Vollstreckung der Haftbefehle - und damit deutlich im Verzug: 25 488 Haftbefehle waren am 1. April dieses Jahres nicht vollzogen. Warum werden so viele Täter nicht dingfest gemacht? Das Innenministerium verweist ans Justizministerium. Und das relativiert erst einmal die Zahlen: Manche Menschen werden wegen mehrerer Vergehen gesucht, die Zahl der Haftbefehle sei daher höher als die Anzahl der Straftäter. Wie viele Menschen es exakt seien, gehe aus den Daten nicht hervor, sagt Ulrike Roider. Die Sprecherin des Justizministeriums meint: weniger als 25 000.

Hinzu kommen Fälle, in denen sich die Täter im Ausland befinden oder nach einem Teil der Haft abgeschoben wurden. Vorsichtshalber blieben deren Haftbefehle aufrechterhalten, damit sie im Falle einer Wiedereinreise ausfindig gemacht werden können. Wie hoch ihr Anteil ist, lasse sich aber nicht sagen.

Hinzu kommt: Die Gesuchten sind zwar polizeilich aufgefallen, aber nicht alle sind tatsächlich gefährlich. Viele würden lediglich per Haftbefehl gesucht, weil sie eine Geldstrafe für kleinere Vergehen nicht bezahlt hätten. Wie viele genau das sind, lässt sich dem Ministerium zufolge nicht sagen. Zum Vergleich: In Nordrhein-Westfalen liegt der Anteil solcher Ersatzhaftstrafen bei knapp 64 Prozent. Von insgesamt 24 300 offenen Haftbefehlen Anfang April seien 15 700 Ersatzhaftstrafen gewesen, sagte ein Sprecher des Justizministeriums in Düsseldorf. Das bevölkerungsreichste Bundesland zählt damit weniger offene Haftbefehle als der Freistaat.

Der Rest aller in Bayern Gesuchten ist untergetaucht, also für die Polizei im Freistaat nicht auffindbar. "Insgesamt ist die Tendenz nicht beruhigend", sagt der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Hermann Benker. "Früher gab's Zielfahndungseinheiten, die sich ausschließlich um offene Haftbefehle kümmerten. Die gibt's nicht mehr. Darüber sollte man sich Gedanken machen. Es kann nicht sein, dass man sich auf ,Aktenzeichen XY ungelöst' verlässt."

Heutzutage liefen Fahndungen oft nebenbei, sagt Benker. Zwar würden Polizisten die Straffälligen an den gemeldeten Wohnsitzen suchen. Wenn sie dort aber nicht fündig werden, wandere der Fall einfach zu den Akten. "Bei Kalibern wie Mördern und Schwerverbrechern wird intensiver gesucht und auch bei Freunden und Familie recherchiert. Dieser Aufwand ist bei kleineren Fällen wie Ersatzfreiheitsstrafen nicht machbar. Da fehlt uns das Potenzial an Kräften."

Mehr Personal bei Polizei oder Justiz?

Mehr Polizisten zu fordern, wäre ein einfacher Reflex, sagt der Landeschef der Gewerkschaft. Und er sieht noch eine weitere Schwierigkeit. "Die Polizei hat wahnsinnig viele Felder zu bearbeiten." Zum Beispiel in Justizvollzugsanstalten: Polizisten begleiten Gefangenentransporte und bringen Häftlinge zum Gericht. "Da fahren die Kollegen auch mal einen Gefangenen von Bayreuth nach Straubing. Wir müssen dafür alles stehen lassen." Vielleicht sollte man in der Justiz mehr Personal einstellen, um die Gerichtsverhandlungen nahe der Gefängnisse durchführen zu können, meint Benker. Dann könnten sich Polizisten mehr auf offene Haftbefehle konzentrieren.

Die Sprecherin des Justizministeriums betont, dass die Zahl der gesuchten Straftäter immer nur eine Momentaufnahme sein könne. Das Hantieren mit Haftbefehlen sei ein dynamischer Prozess: "Auf der einen Seite werden ständig offene Haftbefehle durch die Sicherheitsbehörden vollzogen, auf der anderen Seite werden neue Haftbefehle von den zuständigen Justizbehörden erlassen." Der Rückblick auf die vergangenen fünf Jahre zeigt, dass sich die Zahl offener Haftbefehle stets in einer Größenordnung von etwa 24 000 bis 25 500 bewegt. Ausreißer war das Jahr 2010 mit mehr als 27 000 zum Stichtag im April. Wie viel Zeit durchschnittlich zwischen Ausstellen und Löschen eines Haftbefehls liegt, kann das Ministerium nicht sagen.

Die aktuellen Delikte reichen von Beleidigung und Bedrohung (243 Fälle) über Raub und Erpressung (498) bis hin zu Körperverletzung (1194) und Sexualstrafen (259). 1312 Fälle wegen illegalen Schleusens werden gelistet, 409 wegen des Erschleichens von Leistungen, 273 zum Waffengesetz, 1488 wegen Urkunden- und Wertpapierfälschung. Außerdem werden 385 Verkehrsgefährder gesucht. Auf der Liste stehen auch Steuersünder. Wie viele genau, lässt sich aber nicht sagen: Sie sind zusammen mit anderen Vergehen in der Rubrik "Sonstige Delikte" zusammengefasst. Diese Sammelkategorie steht mit 5614 Haftbefehlen, nach Diebstahl und Unterschlagung, an zweiter Stelle.

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