Jugendliche mit psychischen Problemen:Warten auf die Therapie

Immer mehr Jugendliche in Bayern haben psychische Probleme, doch bis sie einen Behandlungsplatz bekommen, kann es Monate dauern. Die Folgen sind eklantant: Selbst Kinder werden mit Medikamenten ruhig gestellt - obwohl das bei einem Großteil der Betroffenen gar nicht nötig ist.

Dietrich Mittler

Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen müssen in Bayern mehr als zwei Monate warten, bis sie einen Kennenlerntermin bei einem Therapeuten bekommen. "Die Situation ist nahezu dramatisch", sagt der Münchner Kinder- und Jugendtherapeut Peter Lehndorfer, der im Vorstand der bayerischen Psychotherapeutenkammer (PTK) sitzt.

Depression

Mehr als zwei Monate lang müssen Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen in Bayern warten, bis sie einen Therapieplatz bekommen.

(Foto: Arno Burgi/dpa)

Im Schnitt bekommen die jungen Patienten laut Lehndorfer erst nach 9,3 Wochen einen Therapeuten für ein Erstgespräch zu Gesicht. Auf den Therapiebeginn müssten sie in städtischen Großräumen in der Regel 19 Wochen warten, im ländlichen Bereich sogar mehr als 23 Wochen. Eine Zeitspanne, in der die jungen Patienten "sinnlos leiden müssen", wie Lehndorfer sagt.

Die Situation hat sich in den vergangenen Jahren verschärft, weil immer mehr Kinder und Jugendliche in Bayern unter psychischen Störungen leiden - wie etwa Depression, Ängste oder Überaktivität bis hin zu einem hohen Aggressionspotential gegen sich selbst und andere. Nach einer Studie aus dem Jahr 2010 sind 17,6 Prozent der Kinder und Heranwachsenden mit psychischen Problemen belastet.

Der Verband der Bayerischen Bezirke will sich nun in Augsburg gleich zwei Tage lang mit dem Thema befassen. "Hier besteht dringender Handlungsbedarf", sagt Verbandspräsident Manfred Hölzlein. Junge Menschen, die an schweren psychischen Störungen litten, müssten sofort behandelt werden, fordert er.

Nach Erkenntnissen der Techniker Krankenkasse sind in Bayern derzeit 44.000 Kinder und Jugendliche betroffen. Nur 54,4 Prozent von jenen, die "behandlungswillig" sind, konnten nach einer regionalen Studie der Bezirke in Amberg überhaupt psychotherapeutisch versorgt werden. Kein Einzelfall.

Die Folgen der Unterversorgung sind eklatant: Um die Kinder und Jugendlichen ruhig zu stellen, werden ihnen häufig Medikamente verabreicht. Von 2007 bis 2011 erhöhte sich nach einer Erhebung der AOK Bayern die Zahl ihrer Versicherten im Kindes- und Jugendalter um 20 Prozent, denen der Wirkstoff Methylphenidat (Ritalin) verordnet wurde. "Wir nehmen diese Entwicklung sehr ernst", sagt ein Sprecher der Kasse - umso mehr, da die Menge des verabreichten Wirkstoffs im Schnitt um 25 Prozent gestiegen sei.

Gesundheitsexperten gehen jedoch davon aus, dass lediglich "bei einem Viertel der Betroffenen Medikamente nötig sind", wie Karl Vetter, der gesundheitspolitische Sprecher der Freien Wähler im Landtag, sagt. Dem überwiegenden Teil der Betroffenen könne mit alternativen Therapien geholfen werden.

Täglich viele Kilometer bis zur Tagesklinik

Doch solche Therapien müssen auch zugänglich sein - und das nicht nur Ballungsräumen. In Bayern gibt es derzeit landesweit 513 auf Kinder und Jugendliche spezialisierte Psychotherapeuten-Praxen, die Kassenpatienten behandeln, teilt die PTK mit.

Zu wenig, wie Vorstandsmitglied Lehndorfer anmahnt. "Von wohnortnaher Behandlung kann überhaupt keine Rede sein", kritisierten bereits 2011 Angehörige von psychisch Kranken bei einer Anhörung im Landtag. In ländlichen Gebieten gebe es zu wenige oder keine Fachärzte. "Die betroffenen Familien müssen dort täglich viele Kilometer mit dem psychisch kranken Kind in die Tagesklinik fahren", hieß es. Das Zusammenspiel zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, aber auch die Kooperation zwischen Schule, Elternhaus, Jugendamt und anderen involvieren Organisationen sei in vielen Fällen problematisch.

"Der Ausbaubedarf ist enorm", sagt Verbandschef Hölzlein. Es sei an der Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. Sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Versorgung müsse sich jetzt etwas tun, teilte er Anfang dieser Woche Gesundheitsminister Marcel Huber mit.

Die Bezirke sind aber nicht die einzigen, die warnend ihre Stimme erheben. Bayerns Wohlfahrtsverbände sind ebenfalls alarmiert. "Fakt ist, dass in unsere Dienste zunehmend mehr Jugendliche und Eltern mit psychischen Problemen kommen, deren Auswirkungen das Leben in der Schule, in der Ausbildung und in der Arbeit - aber auch das familiäre Zusammenleben - erheblich belasten", heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme.

Zunehmend sei zu beobachten, dass auffällige Kinder und Jugendliche "als Wanderer zwischen den Systemen der Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie" hin- und herpendelten. Der Grund: "Es fehlen neben der Erziehungsberatung niedrigschwellige Angebote für die Betroffenen und ihr soziales Umfeld - zur Beratung, Begleitung und zur Nachsorge", warnen die Verbände.

Gesundheitsminister Huber (CSU), der bei der Versammlung der Bezirke am Freitag in Augsburg zu diesem Problem Stellung nehmen will, sagte auf Nachfrage: "Im Bereich der stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung konnten in den letzten Jahren substanzielle Verbesserungen erzielt werden." Ambulante Angebote speziell im ländlichen Raum wolle er nun "aber weiter optimieren".

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