Jubiläum:Als aus Bayern Europäer wurden

Charles de Gaulle und Hans Ehard in München

Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard fahren 1962 durch München.

(Foto: United Press)
  • Am 25. März 1957 wurden die Römischen Verträge unterzeichnet, sie gelten als die Geburtsurkunde der Europäischen Union.
  • Bayerns Einfluss auf die EU ist dabei weit größer, als viele annehmen.
  • Das belegen mehrere wissenschaftliche Arbeiten, die jetzt erschienen sind.

Von Hans Kratzer

Allen europäischen Großkrisen zum Trotz ist die Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 60 Jahren in den vergangenen Wochen mit kräftigem Tamtam gefeiert worden. Immerhin gelten die von den Regierungen der sechs Gründerstaaten Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande auf den Weg gebrachten Verträge als die Geburtsurkunde der Europäischen Union. Ungeachtet dessen hat die Forschung die damaligen Entwicklungen bisher nur sehr punktuell beleuchtet. Dass damit nicht nur für Europa und Deutschland eine einschneidend neue Ära begann, sondern auch für Regionen wie den Freistaat Bayern, wurde kaum beachtet.

Dabei weckt die Rolle, die Bayern bei diesem Einigungsprozess gespielt hat, durchaus Eindruck, sie steckt voller Überraschungen. Einerseits hat Europa nach den Römischen Verträgen vom März 1957 immer stärker auf Bayern eingewirkt. Andererseits hat der Freistaat auf seine gewohnt umtriebige Art das moderne Europa weitaus mehr geprägt, als viele es wahrhaben wollen.

Für die Länder der Bundesrepublik bedeutete das neue Europa zunächst eine große Herausforderung. Sie mussten erst einmal lernen, die europäischen Institutionen als Partner zu begreifen. Trotzdem hat der Freistaat Bayern den europäischen Einigungsprozess bejaht und von Anfang an versucht, ihn kräftig mitzugestalten. Wie der Historiker Alex Wegmaier in seiner Dissertation resümiert, habe der bayerische Landtag in den ersten Nachkriegsjahren zwar oft um den politischen Weg gestritten. Am 23. September 1948 aber seien sich alle Parteien einig gewesen: Der Landtag stimmte in einer Resolution der "baldigen Einberufung einer Europäischen Versammlung zur Ausarbeitung einer Verfassung der Vereinigten Staaten von Europa" zu und ersuchte die Staatsregierung, "nichts unversucht zu lassen, um den Gedanken der Vereinigten Staaten von Europa zu fördern und seine praktische Verwirklichung zu unterstützen". Der Beschluss erfolgte einstimmig.

Bereits in ihrem ersten Grundsatzprogramm von 1946 hatte die CSU eine europäische Konföderation und eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion gefordert. In der Folge legten die Bayern dann auch überzeugende Vorschläge auf den Tisch. "Die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips als Strukturprinzip der Europäischen Union geht maßgeblich auf bayerisches Engagement zurück", sagt Ferdinand Kramer, Ordinarius am Institut für Bayerische Geschichte der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU).

Es ist ja kein Wunder. Die Bayern, die für sich beanspruchen, im ältesten Staat Europas zu leben, favorisieren den Föderalismus und die Subsidiaritätslehre schon aufgrund ihres eigenen Selbstverständnisses. Ein staatlich-kulturelles Eigenleben der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und im künftigen Europa sollte weiterhin möglich sein.

Ein Forschungsprojekt untersucht die Rolle Bayerns in der EU

Um die packende Genese des Geflechts zwischen dem modernen Europa und Bayern besser zu durchleuchten, hat das Institut für Bayerische Geschichte der LMU vor einigen Jahren unter dem Titel "Bayerns Weg nach Europa" ein Forschungsprojekt eingerichtet. Dort wird beispielsweise der Frage nachgegangen, wie Politiker, staatliche Institutionen, Kommunen, Parteien, Verbände und Initiativen den europäischen Integrationsprozess unterstützten oder auch kritisierten. Außerdem wird wissenschaftlich untersucht, wie diese historische Entwicklung den Wandel Bayerns beeinflusst hat. "Einerseits sind dabei für die Menschen und für die Wirtschaft neue Spielräume in Europa entstanden, andererseits Kompetenzen der Länder verlustig gegangen", sagt Ferdinand Kramer.

Soeben sind zwei Dissertationen mit aufschlussreichen Ergebnissen fertiggestellt worden. Alex Wegmaier zeigt in seiner Arbeit auf, wie vielfältig und stark die Unterstützung für die politische Einigung Europas im Bayern der Nachkriegsjahrzehnte war. Rudolf Himpsl wiederum legt dar, dass in der bayerischen Wirtschaft zunächst auch Skepsis gegenüber der 1957 vereinbarten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der sechs Länder herrschte. Es wurde befürchtet, dass sich neben den Chancen innerhalb der sechs Vertragsstaaten auch Probleme gegenüber anderen europäischen Staaten, nicht zuletzt gegen Österreich, ergeben könnten.

Raphael Gerhardt führt in einer weiteren Dissertation auf, wie die Agrarpolitik als erstes gemeinsames europäisches Politikfeld in Bayern mitgestaltet wurde. Demnach wurden manche Einschränkungen dieser neuen Politik einfach deshalb hingenommen, weil die politische Einigung Europas als übergeordnetes Ziel betrachtet wurde. Eine Haltung, die im heutigen disharmonischen Europa fast befremdlich wirkt. Andererseits versuchte die bayerische Politik ihre in der Bundesrepublik entwickelte Föderalismuspolitik nachdrücklich auf Europa zu übertragen, um auch in einem geeinten Kontinent die Staatlichkeit Bayerns zu wahren. Letztlich endeten diese Bemühungen erfolgreich: Sowohl das Konzept vom Europa der Regionen ging daraus hervor sowie die bereits genannte Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag von Maastricht (1992).

Die entscheidenden Impulse gingen von Bayern aus

Laura Ulrich erinnert in ihrer Arbeit für "Wege nach Europa" zudem an Heinrich Aigner, einen aus Amberg stammenden Abgeordneten des Europaparlaments, der beharrlich die Einrichtung des Europäischen Rechnungshofes betrieben hat. Nicht zuletzt war der Freistaat Bayern 1992 maßgeblich bei der Etablierung des sogenannten Europaartikels (Art. 23) des Grundgesetzes mit den Bestimmungen zur Mitwirkung der Länder in Angelegenheiten der Europäischen Union beteiligt. 1998 hat der Freistaat seine eigene Verfassung im Artikel 3a mit Blick auf die europäische Entwicklung geändert. Eine zwar gegensätzliche, aber weit über Bayern hinauswirkende Rolle bei der Einführung des Euro spielten die CSU-Spitzenpolitiker Theo Waigel (als Bundesfinanzminister) und Edmund Stoiber (als Bayerischer Ministerpräsident).

Hans Ehard und Charles de Gaulle bei der Fahrt durch München

Foto: dpa

Grundsätzlich reicht ja das Verhältnis zwischen Europa und Bayern bis in die Antike zurück. Für den Historiker Kramer und die Doktoranden des Europa-Projekts aber ist unverkennbar, dass Europa im politischen Denken und Handeln sowie auch in der Zivilgesellschaft in Bayern nach 1945 einen neuen Stellenwert bekommen hat - "zunächst in der Distanzierung von Nationalismus, deutschnationalen und nationalliberalen Traditionen der politischen Kultur". Gerade in der Rückbesinnung auf die alten Verbindungen Bayerns zum romanisch-europäischen Kulturraum sollten Bayern und Deutschland in Europa nach den Vorstellungen der damaligen bayerischen Politiker in einem "europäischen Bundesstaat" oder in den "Vereinigten Staaten von Europa" ihre Zukunft finden.

Die Staatsregierung setzte in ihrer Europapolitik auf eine bewährte Strategie, die sie aus dem deutschen Föderalismus kannte: Sie wollte laut Wegmaier durch Verflechtungsprozesse Einfluss auf das Handeln der anderen Ebenen nehmen. Dabei stand die Staatsregierung gerne an der Spitze der deutschen Länder. Sie forderte am lautesten die Länderbeteiligung an europäischen Prozessen ein. Die bayerische Politik hatte entscheidenden Anteil daran, dass sich eine Frühform des heutigen europäischen Mehrebenensystems ausbildete, bilanziert Wegmaier. Die Präsenz von Landespolitikern in der europapolitischen Debatte ist heute selbstverständlich, was die bayerische Vertretung in Brüssel überdeutlich symbolisiert. Die Grundlagen dafür wurden in den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren gelegt. Die entscheidenden Impulse gingen von Bayern aus.

Alexander Wegmaier, Europäer sein und Bayern bleiben. Die Idee Europa und die bayerische Europapolitik 1945-1979, Diss. masch. 2017. Rudolf Himpsl, Europäische Integration und internationalisierte Märkte. Die Außenwirtschaftspolitik Bayerns 1957-1982, Diss. masch. 2017. Raphael Gerhard, Bayerische Agrarpolitik zwischen EWG, Verwaltungsreform und Umweltschutz. Das Bayerische Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 1945-1985 (Arbeitstitel). Diese und weitere Dissertationen des Projekts "Wege nach Europa" sollen 2017/18 bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erscheinen.

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