Jagd in den Alpen:Rottet Bayern gerade die Gämsen aus?

Jagd in den Alpen: Gämsen sind wahre Kletterkünstler, die sich in extrem steilen Wiesenhängen wohlfühlen.

Gämsen sind wahre Kletterkünstler, die sich in extrem steilen Wiesenhängen wohlfühlen.

(Foto: Ronald Wittek/dpa)
  • Um Schutzwälder zu sanieren, haben der Freistaat Bayern und die Förster ein "besonderes Jagdkonzept" entwickelt.
  • Gämsen werden "scharf bejagt", so scharf, dass inzwischen ganze Bergstöcke frei von ihnen sind.
  • Der Grundsatz "Wald vor Wild" führt zu Streit mit Jägern und Naturschützern.

Von Christian Sebald, Krün/Vorderriss

Es ist ein leuchtend blauer Dezember-Morgen, die kalte Nacht hat Raureif über die dunkelgrünen Bergwälder im oberen Isartal gelegt. Rudolf Plochmann kurvt von Krün zur Fischbachalm hinauf. Plötzlich bremst er scharf. "Da vorne", sagt der Chef des Forstbetriebs Bad Tölz, "da vorne ist eine." Mitten auf der Forststraße steht eine Gämse. Noch bevor man sie richtig betrachten kann, ist sie im Bergwald verschwunden.

Die Gämse ist nur die erste, die man an diesem Tag zu Gesicht bekommt. Oben in der Südflanke des Fischbachkopfs und in den felsdurchsetzten Latschenhängen der Soierngruppe - überall kann man an diesem Tag welche beobachten. Mit ihren nach hinten gebogenen Hörnern und den weißen Hinterteilen erkennt man sie auch auf große Distanzen sehr gut. Und immer wieder hört man ihre zischenden Pfiffe.

Unten in den Tälern zwischen Berchtesgadener Land und Oberallgäu tobt schon seit fast drei Jahren ein hitziger Streit um die Gämsen, an Stammtischen und bei Treffen des Jagdverbands, auf Tagungen und im Internet. Getreu der Verszeile in der alten bayerischen Preußensatire: "Ach det Jemsenschießen! Ach det Alpenleben!" Die Debatte dreht sich darum, wie es den Gämsen in Bayern ergeht. "Katastrophale Verhältnisse", "überjagt" und "instabile Bestände" sind noch die harmloseren Formulierungen, viele sprechen von "Ausrottungspolitik" und immer wieder hört man sogar Worte wie "Krieg", "No-Go-Gebiete" und "Todgeweihte".

Manche stellen gar die Frage, wie lange es wohl noch Gämsen geben wird in den bayerischen Bergen? Denn darin sind sie sich einig an den Stammtischen, bei Jägertreffen, auf den Tagungen und im Internet: Förster wie Plochmann lassen die Gämsen erbarmungslos abschießen.

Gämsen sind besondere Tiere, nicht nur für die Jäger, sondern auch für Bergsteiger und Wanderer. Das liegt daran, dass die Tiere hoch oben im Gebirge leben, wo die Bergwälder in die Almregion und in felsiges Gelände übergehen und es so steil wird, dass nur erfahrene Jäger und Bergsteiger dorthin gelangen können. Die Tiere selbst, die zu den Ziegenartigen zählen, wirken auf den ersten Blick eher plump, mit ihren gedrungenen Körpern und den bis zu 50 Kilogramm Gewicht.

Aber das täuscht. Gämsen sind geschickte und vor allem schnelle Kletterer. Dank ihrer spreizbaren Hufe und der elastischen Sohlen können sie bis zu zwei Meter hoch und sechs Meter weit springen. In abschüssigem Gelände werden sie bis zu 50 Kilometer pro Stunde schnell. Es sind diese Eigenschaften, welche die Gämse seit jeher zum Symbol für die Freiheit in den Bergen machen. So wie der Gamsbart, der aus den Rückenhaaren erwachsener Böcke angefertigt wird, von der Schneidigkeit seines Trägers zeugt.

Anruf bei Andreas Kinser, dem Referenten für Jagd- und Forstpolitik der "Deutschen Wildtierstiftung" in Hamburg. Die Stiftung, deren Schirmherr Alt-Bundespräsident Roman Herzog ist, hat sich zum Ziel gesetzt, "Deutschlands wilde Tiere zu schützen" - ob das Hirsche, Luchse, Adler oder eben Gämsen sind. Mit bayerischen Aktiven hat sie das Projekt "Gämse - der Konflikt in Bayern" gestartet. Das Ziel: Die Tiere sollen besser geschützt werden.

Wie steht es um die Gämse im Freistaat, Herr Kinser? "Von den Zahlen her ist die Gams sicher nicht gefährdet", sagt Kinser. Alpenweit beträgt die Population etwa 440 000 Tiere. So hat es die Weltnaturschutzunion IUCN zuletzt 2008 hochgerechnet. In Bayern mit seinem vergleichsweise kleinen Anteil an den Alpen leben zwischen 16 000 und 20 000 Stück. Genauer weiß man es nicht.

Kinser sagt, nach seiner Überzeugung sind es sicher weniger als 16 000. Für den Förster Plochmann sind 20 000 die Untergrenze. In jedem Fall dürfte die Population einigermaßen stabil sein. Als Beleg gilt, dass seit Anfang der 2000er-Jahre etwa 4000 Gämsen jährlich geschossen werden, mal etwas mehr, mal etwas weniger - "aber ohne Anzeichen, dass die Gesamtpopulation rückläufig ist", wie Plochmann betont.

"Es geht nicht an, dass Förster ganze Bergstöcke frei von Gämsen halten"

Warum dann aber der Streit um die Gämse? "Wir könnten sehr viel mehr Gämsen in den bayerischen Alpen haben", sagt Tierschützer Kinser. "Die Bergwelt würde das in jedem Fall hergeben." Die Wildtierstiftung nimmt für diese Forderung die Naturschutzvorgaben der EU in Anspruch. Danach darf zwar Jagd auf Gämsen gemacht werden. "Aber das heißt nicht, dass die Jagd dazu führen darf, dass sie in einzelnen Gebieten nicht mehr vorkommen", sagt Kinser.

Außerdem müssten die EU-Staaten dafür sorgen, dass die Population in ihren Bergen in einem "günstigen Erhaltungszustand" ist. Dazu zählt für die Wildtierstiftung, dass sich die Gämsen überall ausbreiten können sollen, wo sie sich wohl fühlen. Also nicht nur auf den Almen und in den Felsregionen oberhalb der Baumgrenze. Sondern auch in den Bergwäldern darunter. "Es geht nicht an, dass die Förster ganze Bergstöcke frei von Gämsen halten", sagt Kinser, "nur weil aus ihrer Sicht der Bergwald Priorität hat."

Der Förster Rudolf Plochmann sieht das ganz anders. "Ich habe nichts gegen Gämsen", sagt er. "Aber dort, wo wir mit Millionen-Aufwand Schutzwälder sanieren, müssen wir die Tiere scharf bejagen." Plochmann bezieht sich auf das bayerische Waldgesetz. In ihm ist der Grundsatz "Wald vor Wild" festgeschrieben. Außerdem sind Schutzwälder, das sagt schon der Name, besondere Bergwälder. Schutzwälder schützen Dörfer, Straßen und andere Infrastruktureinrichtungen in den Tälern vor Lawinen, Steinschlag und Muren.

Aber nicht nur das. Schutzwälder sind zentral für den Hochwasserschutz im Alpenvorland. Allein die Nadeln und Blätter eines gesunden Bergmischwaldes können die Hälfte der Niederschläge abfangen, die immer am Anfang eines Hochwassers stehen. Ohne Bergwald würden sie ungehindert in den Boden eindringen und ihn erodieren lassen. Das Wurzelwerk der Bäume wiederum festigt das Erdreich. Und herabfallende Nadeln und verrottendes Laub am Boden stärkt die Humusschicht.

Deshalb tun Freistaat und Förster alles, um die Schutzwälder in möglichst gutem Zustand zu erhalten. Von den 260 000 Hektar Bergwald in Bayern sind 147 000 Hektar Schutzwald. Ungefähr 14 000 Hektar davon, also knapp zehn Prozent, sind freilich in so schlechtem Zustand, dass sie sorgsam gepflegt und aufgeforstet werden müssen, damit sie irgendwann einmal wieder ihre Schutzfunktion übernehmen können. Seit 30 Jahren hat der Freistaat dafür ein sogenanntes Schutzwald-Sanierungsprogramm. Bisher hat er dafür 85 Millionen Euro investiert.

Ein zentraler Punkt für die Schutzwald-Sanierung ist die Jagd. Denn die Triebe der jungen Bäume, die die Förster in mühevoller Arbeit an den Steilhängen pflanzen, sind Leckerbissen für das Wild - gerade im Winter. "Deshalb haben wir ein besonderes Jagdkonzept entwickelt", sagt der Förster Plochmann. "In den Schutzwald-Sanierungsflächen wollen wir so wenig wie möglich Gämsen haben - dort werden sie scharf bejagt, wenn nötig, auch außerhalb der Schonzeit." Im gewöhnlichen Bergwald wird ebenfalls gezielt Jagd auf Gämsen gemacht, "aber längst nicht so scharf wie in den Sanierungsflächen".

Und in den Hochlagen an und oberhalb der Waldgrenze, wo der eigentliche Lebensraum der Gämsen liegt, "da halten wir uns sehr zurück", sagt Plochmann, "hier sollen so viel Gämsen wie möglich leben". Die Wildtierstiftung misstraut Plochmanns Versicherungen. Sie hat ein groß angelegtes Monitoring gestartet, mit dem sie nicht nur ermitteln will, wo und wie viele Gämsen tatsächlich in den bayerischen Bergen leben. Sondern auch, wie vital die Population insgesamt ist.

Eineinhalb Wochen später, das Wetter ist nasskalt geworden. Der Soiernweg führt von Vorderriß den Fischbach entlang in Richtung Fischbachalm und weiter hinauf in den Soiernkessel. Vor allem in seinem unteren Abschnitt ist er eine breit ausgebaute Forststraße. Als erstes erreicht man auf ihr die Brünstalm. Kurz vor dem Abzweiger zu der Almhütte wird der Bergwald lichter. Plötzlich knackt es zwischen den Bäumen, dann springt eine Gämse über die Straße und sprintet in Richtung Almwiese davon. Weiter hinten im Tal liegt eine dünne Schneedecke auf dem Soiernweg. In ihr sind unzählige Hufabdrücke zu sehen. Es sieht nicht wirklich danach aus, als seien die Gämsen hier in großer Not.

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