Ivo Holzinger:Der Immerwährende tritt ab

36 Jahre lang prägte der Sozialdemokrat als Oberbürgermeister die erstaunliche Entwicklung Memmingens. Mit seinem Abschied geht die Ära des dienstältesten OBs Deutschlands zu Ende. Am Sonntag wird sein Nachfolger gewählt

Von Stefan Mayr, Memmingen

Die Stirn ist höher, die Haare sind weißer geworden. Aber die Augen, die sind noch hellwach, die Bewegungen noch schwungvoll und das Lächeln noch gewinnend. Und immer noch steht Ivo Holzinger mitten im Gespräch unvermittelt auf und läuft durch den Raum. "Da kann ich besser denken", sagt der Memminger Oberbürgermeister auf seinem Zickzackkurs über Parkett und Teppich. Dann erzählt er, wie er anno 1980 hier erstmals in seinem Amtszimmer im Rathaus Platz nahm. Und welche traurigen und lustigen Dinge er in den 36 Jahren als Stadtoberhaupt erlebt hat.

Die positiven Erinnerungen überwiegen. Holzinger wurde fünfmal wiedergewählt. Das machte ihn zum dienstältesten Oberbürgermeister Deutschlands. In vier Wochen endet die Amtszeit des 68-Jährigen, am kommenden Sonntag wird der neue Oberbürgermeister gewählt. Welcher der vier Bewerber gewinnt, ist offen. Fest steht, dass Ivo Holzinger einen geordneten Laden hinterlässt. Memmingen steht als dynamisches Oberzentrum da und setzt zum nächsten großen Coup an. Der schwedische Möbelgigant Ikea will vor den Toren der Stadt am Autobahnkreuz Memmingen eine Filiale eröffnen, 350 Arbeitsplätze sollen entstehen, pro Jahr sollen 2,5 Millionen Kunden kommen.

Die Rinderbesamungsanstalt muss dem Projekt weichen - kann man den Wandel vom einst beschaulichen Städtchen im Unterallgäu zum Industriestandort mit potenten Unternehmen besser belegen? Einen Computer gibt es auf Holzingers Schreibtisch im holzvertäfelten Amtszimmer nicht. Stattdessen türmen sich Papierberge, die den Allgäuer Alpen alle Ehre machen und nur einen Schluss zulassen: Nie und nimmer kann er die bis zu seinem letzten Arbeitstag abarbeiten. Auch das Schicksal Dutzender Oktoberfest-Bierkrüge, die in Reih' und Glied auf dem Schrank stehen, ist noch unklar. Ob sie der Nachfolger stehen lassen wird? Nach Hause wird sie Holzinger jedenfalls nicht nehmen. "Ich darf keine Krüge mehr heimbringen", sagt er. Das sind die Nebenwirkungen, wenn man fast ein komplettes Berufsleben lang Oberhaupt einer einzigen Stadt ist.

Ivo Holzinger

Nur noch kurz den Schreibtisch aufräumen. Ivo Holzinger, SPD-Oberbürgermeister von Memmingen, muss bald Abschied von seinem Amtswohnzimmer nehmen.

(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Als Holzinger sein Büro als 32-jähriger Überraschungssieger zum ersten Mal betrat, klapperte im Vorzimmer noch die Schreibmaschine. Das Autobahnkreuz A 7/A 96, das nicht nur Ikea anlockt, gab es damals noch gar nicht. "Da war nur die Bundesstraße", sagt Holzinger. "Die war zweistreifig und lief durch die Stadt und die Wohngebiete." Um sein erstes Autotelefon, so hießen die Dinger damals noch, musste er lange kämpfen. "Dem Kämmerer war das viel zu teuer", sagt Holzinger. "Ich musste ihn sehr lange bearbeiten, bis er es irgendwann abgenickt hat."

Die Büro-Einrichtung ist noch die von 1980. Alle halbe Stunde schlägt die alte Wanduhr wie in einem Schwarz-weiß-Krimi, der auf irgendeiner aus der Zeit gefallenen Burg spielt. Doch in diesem Zimmer wurden auch Fortschritt und Zukunft gestaltet: 1980 lag die Arbeitslosenquote bei mehr als zehn Prozent. Jetzt liegt sie bei 2,8 - das entspricht Vollbeschäftigung. Die Wirtschaft brummt in Memmingen. Selbst aus der schwärzesten Stunde nach dem Krieg und Holzingers bitterster Niederlage machten die Memminger ein Geschäft: 2004 wurde der Bundeswehr-Fliegerhorst zugesperrt, wenig später nahm der Allgäu Airport seinen Betrieb auf. Er wurde und wird vorrangig von Firmen aus der Region finanziert. "Dieses Engagement ist einmalig", sagt Holzinger stolz. Die Stadt profitiert vom zivilen Flugbetrieb. Ryan Air benannte Memmingen kurzerhand aus Marketing-Gründen in "Munich West" um. Holzinger berichtet von englischen Touristen, die im Memminger Zentrum umherirren und das Hofbräuhaus suchen.

Ein halbes Menschenleben als Oberhaupt einer 40 000-Einwohner-Stadt? Holzinger bezeichnet das als seinen Traumberuf, von dem er schon als Bub geträumt habe. Bei einem Kinderfest in seiner Geburtsstadt Aalen erlebte er eine Rede des Bürgermeisters mit. "Da war ich sehr beeindruckt", erzählt Holzinger. Schon als Student (Volkswirtschaft und Jura) hatte er sein Ziel vor Augen. Thema seiner Doktorarbeit: Mittelstädte in der Gebietsreform. Daneben schrieb er an einem Lehrbuch über Kommunalrecht mit. Als sich 1980 die Chance in Memmingen ergab, trat er als 32-Jähriger an. Der zugereiste Außenseiter gewann die Wahl gegen den amtierenden zweiten Bürgermeister klar. Holzingers Trumpf damals wie heute: Er kann mit den Leuten. Er geht auf jeden mit einem offenen Lächeln zu, hört zu und vergisst keinen Namen. Dabei bewegt sich der promovierte Jurist immer auf Augenhöhe.

Ivo Holzinger: Als Ivo Holzinger (rechts) 1980 sein Amt als Oberbürgermeister antrat, war Helmut Schmidt Bundeskanzler.

Als Ivo Holzinger (rechts) 1980 sein Amt als Oberbürgermeister antrat, war Helmut Schmidt Bundeskanzler.

(Foto: oh)

Wenn sich die Männer beim alljährlichen Fischertag in den Bach stürzen, um die größte Forelle zu fangen, dann ist Holzinger stets dabei. Nicht etwa mit Anzug und Krawatte auf der Ehrentribüne, sondern mit Halstuch und traditionellem Strohhut mittendrin. Im Wasser.

Fünfmal wurde er wiedergewählt, jedes Mal im ersten Durchgang. Diese Serie ist doppelt bemerkenswert, da seine SPD in all den Jahren im Stadtrat immer in der Unterzahl war. Holzinger musste sich stets mit der Mehrheitspartei CSU arrangieren oder andere Allianzen organisieren. Nun darf Holzinger aus Altersgründen nicht mehr antreten. Neulich hat er noch einen Aprilscherz gemacht: Wenn genügend Bürger ins Rathaus kommen und unterschreiben, so schrieb die Lokalzeitung, dann macht Holzinger noch ein Jahr länger. Die Leute kamen und Holzinger empfing sie mit diebischer Freude über den Spaß (und den Zuspruch) mit Brezen und Freibier.

Würde er weitermachen, wenn er könnte? Holzinger schwört Stein und Bein, dass er gerne loslässt. "Ich freue mich, mehr Zeit für meine Frau und meine zwei Enkel zu haben." Wehmut sei nicht seine Art, sagt er. "Ich werde das Leben weitergehen lassen." Man kann ihm das abnehmen.

Die Wahl des neuen OB wird spannend: Den SPD-Kandidaten Markus Kennerknecht hat Holzinger mit ausgesucht. Doch der 45-jährige Bauamtsleiter der Stadt Immenstadt ist kein Selbstläufer. Er hat wuchtige Konkurrenz. Die CSU wittert ihre Chance und schickt den Karriere-Beamten Robert Aures ins Rennen. Der 47-jährige Referatsleiter im bayerischen Gesundheitsministerium war zuvor sieben Jahre als Gesandter der Staatskanzlei in Brüssel. Auch die Freien Wähler und die AfD treten mit einem eigenen Kandidaten an. Eine Stichwahl ist wahrscheinlich.

Zur Wahl will Holzinger partout keine Aussage machen. Viel lieber wirbt er für die Ansiedlung von Ikea, die viele Geschäftsleute aus der Stadt kritisch sehen. Denn Ikea will nicht nur Möbel verkaufen, sondern in einem "Fachmarktzentrum" auch Ladenflächen an Einzelhändler vermieten. "Durch Ikea werden deutlich mehr Menschen in die Stadt kommen als jetzt", sagt Holzinger. Da schlägt die Wanduhr schon wieder. Ivo Holzingers Amtszeit läuft am 20. November ab. Zwei Tage zuvor wird ihn die Stadt mit einem Festakt verabschieden. Und ihm die Ehrenbürgerwürde verleihen.

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