Integrationsbetrieb:Wie eine Großküche in Kulmbach Inklusion lebt

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In der Kulmbacher Menüfaktur kochen Menschen mit und ohne Behinderung in der Woche bis zu 2500 Mahlzeiten. Marina Lofink (rechts) leitet den Betrieb. (Foto: Matthias Hoch)

In der Menüfaktur zaubern Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen Mahlzeiten für Schüler und Senioren. Dort ist Zeit für Umarmungen und Durchschnaufen.

Von Sabrina Schatz, Kulmbach

Patrick schlingt die Arme um die Taille seiner Chefin. Er legt das Kinn auf ihre rechte Schulter, schließt einen Moment lang die Augen hinter der Brille. Auf den Lippen liegt ein Grinsen, das er nie verliert. In den Mundwinkeln kleben noch Brösel vom Salamibaguette, das er in der Pause verdrückt hat.

"Dein Mund ist ganz dreckig. Wasch ihn doch kurz ab", sagt die Chefin mit Glitzerring am Finger und Hygienehaube auf dem Kurzhaarschnitt, als er sie wieder loslässt. Der Mann, Mitte 20, nickt und flitzt zur Toilette. Die Frau sieht ihm nach wie einem lieb gewonnenen Kind, das zum Sandkasten rennt. "Patrick braucht die Umarmung. Sonst kommt er nicht durch den Tag." Eine geistige Behinderung begleitet ihn seit seiner Geburt.

Marina Lofink leitet die Menüfaktur in Kulmbach. In der Großküche arbeiten 47 Menschen in Teil- oder Vollzeit. 14 Mitarbeiter leben mit einer geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigung. Sie kochen unter der Woche 2500 Essen. Zur Mittagszeit landen Bratwürste, Fisch oder Süßkartoffeleintopf auf den Tellern von Krippenkindern, Schülern, Behinderten und Senioren.

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Schon frühmorgens lässt sich das Menü an den Gerüchen erraten. Im hinteren Teil der länglichen Küche duftet es nach gedünstetem Gemüse und Bratensoße, wenige Schritte weiter nach Schokolade und warmer Milch. In einem silberfarbenen Bottich dampfen 330 Kilo Kartoffelstampf. Der Knethaken des Feinkostmischers wabert durch zähen Pudding.

Ein mechanisches Surren liegt über dem Raum, von dem ein Dutzend Türen wegführen. Immer wieder scheppern Töpfe. Kellen und Löffel scharren auf Metall. Obwohl die Uhrzeiger erst auf halb acht Uhr stehen, drückt Hitze durch die scheiben. Den fünf Frauen und Männern am Herd kleben Haare an der Stirn, die unter den übergestreiften Stoffhauben herausspitzen.

An Sommertagen wie diesem fühlt sich Thomas Möhrlein schlapp. Sein Mund trocknet schnell aus, fordert einen Schluck Wasser. Früher habe er das Wetter besser weggesteckt, erzählt der bullige Mann mit grauem Schnauzer und Brille. Früher, das war vor dem Herzinfarkt. Vor der Diagnose Diabetes, Typ zwei. Damals kochte er in einem Altenheim. Als die Großküche geschlossen wurde, suchte er einen neuen Job, einen, bei dem er mehr auf sich achten kann.

Er bekam einen Schein, der einen Behinderungsgrad von mehr als 50 Prozent belegt. Damit bewarb er sich in der Menüfaktur, die einen stellvertretenden Küchenleiter suchte. "Die Belastung ist in der freien Wirtschaft extremer. Hier kann ich Pausen machen. Durchschnaufen", sagt Möhrlein. Dabei formt er mit einem Löffel Kartoffelknödel.

Hinein steckt er Bröggala, geröstete Brotwürfelchen. Die Handgriffe sind routiniert, ein Knödel gleicht dem anderen. Nur beim Abschmecken hapert es an manchen Tagen. Diabetes verwirrt den Gaumen und trügt die Zunge. Dann würzt ein Kollege das Gulasch nach.

Marina Lofink schielt auf die Knödel und tätschelt Möhrlein die Schulter: "Schaut gut aus." Ein ukrainischer Akzent versteckt sich im Fränkischen. Dann marschiert sie in ihr Büro. Vorbei an Lagerräumen, in denen sich Zehn-Kilo-Säcke voll Bohnen stapeln, durch die Hygiene-Schleuse, wo Desinfektionsmittel in die Nase sticht. Die blauen Plastiküberzieher rascheln mit jedem Schritt, den die Stöckelschuhe über den Linoleumboden machen. Lofink geht zügig, Papierkram wartet. Sie will die Konten checken, wie jeden Morgen.

"Ein Betriebswirt ist nur so gut, wie er seinen Betrieb kennt", sagt die 45-Jährige, als lese sie aus ihren Studienunterlagen vor. Doch Lofink meint nicht nur Zahlen. Sie hat die Schicksale der Mitarbeiter ergründet, Geschichten von Burnout gehört, von kaputten Schultern, die beim Hackfleischkneten schmerzen. Sie erfährt, wenn ein gesunder Mitarbeiter nachts wach liegt, weil er fürchtet, dass die Depression seinen Kollegen irgendwann niederringen könnte. Sie hilft beim Spülen und schiebt Essenswägen durch die Kühlräume, um die Aufgaben eines jeden kennenzulernen. Spricht man die Frau auf die Zahl ihrer Überstunden an, sagt sie: "Ist egal. Die Menüfaktur ist mein Baby."

Zu viele Überstunden

Am Bürofenster rauscht von Zeit zu Zeit ein Lastwagen vorbei und fährt aus dem Hof. Die Kolonne steuert die Kulmbacher Innenstadt, Bayreuth oder Bamberg an. An Bord: gekühltes Essen, das die Kunden im Heißluftdämpfer erwärmen. Cook and Chill nennt man diese Kochweise. Kochen und kühlen, frisch und schnell, damit keine Nährstoffe entwischen und der Brokkoli knackig bleibt. Beim "Essen auf Rädern", das die Menüfaktur auch anbietet, schließen Styroporboxen warmes Essen ein.

Kurz vor elf Uhr sieht Lofink im Spülraum nach dem Rechten, der an diesem Tag an eine Sauna erinnert. Auf dem Boden haben sich Pfützen gebildet. Teller und Metallwannen fahren durch eine Maschine, in der es tropft, schäumt und dampft. Das Atmen fällt schwer. Patrick, dessen Nachname nicht genannt werden soll, hilft beim Saubermachen. Er schrubbt mit dem Schwamm in einer Schüssel. Seine Augen suchen das Silber nach Flecken ab, die Stirn schlägt Falten.

Als Lofink durch die Tür kommt, schaut er auf. "Hallo", sein schelmisches Grinsen. "Mach mittags Feierabend, ja? Du hast viele Überstunden. Das Wetter ist so schön", sagt Lofink. Sie weiß, dass einfache Anweisungen bei Patrick ankommen, komplizierte Sätze dagegen verirren sich irgendwo zwischen Ohr und Gehirn. Lofink rückt den Kragen seines grünen Polo-Shirts zurecht, dann drückt sie ihn noch einmal beherzt an sich, schließt kurz die Augen, lächelt. Patrick hat den Arbeitstag fast geschafft.

© SZ vom 18.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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