"Ich wollte helfen, dieses Land wieder aufzubauen":Max macht Schluss

1945 wurde Max Miller von den Amerikanern eingesetzt, danach war er insgesamt 45 Jahre lang Bürgermeister von Salgen - jetzt hört er auf.

Mike Szymanski

So oft hat er diesen Satz in seinem Leben gehört: "Max, mach du das. Du kannst das am besten." Das sagten die Leute immer dann, wenn es in der Allgäuer Gemeinde Salgen etwas zu tun gab. Und Max Miller machte. Es ging damit los, dass er Bürgermeister wurde. Er baute die Schulen aus und machte die Straßen breiter. Er wachte im Rathaus über Salgen, wenn draußen der Sturm die Bäume bog. Die Menschen verlassen sich auf ihn - seit 42 Jahren schon.

"Ich wollte helfen, dieses Land wieder aufzubauen": Max Miller verlor im Krieg drei Brüder. 1967 ließ er in Salgen ein Kriegsmahnmal errichten.

Max Miller verlor im Krieg drei Brüder. 1967 ließ er in Salgen ein Kriegsmahnmal errichten.

(Foto: Foto: oh)

Jetzt sitzt ein grauhaariger Max Miller hinter seinem Schreibtisch und sucht noch nach einer Antwort auf eine Frage, die er erst seit ein paar Wochen zu hören bekommt. Ob er nun froh sei, bald Rentner zu sein? "Ich hätte schon weitergemacht", sagt er zögernd. "Aber das Alter." Der Max kann nicht mehr.

Miller ist 86 Jahre alt und damit der dienstälteste Rathauschef in Bayern. Als der Krieg aus war, führte er schon einmal kommissarisch die Geschäfte in Salgen. Damals war er aber noch ein sehr junger Mann von 24 Jahren. Wenn heute das Haus im Johannisweg Nummer 28 in der Abenddämmerung wie ein kleiner Palast leuchtet, wissen die 1500 Leute in der Gemeinde, dass ihr Bürgermeister noch für sie da ist. Am 2. März, zur Kommunalwahl, wird sich in Salgen etwas ändern. Miller hört dann auf.

Man muss sich weit zu ihm hinunterbeugen, um ihm die Hand zu geben. Miller sitzt im Rollstuhl. Er hat nur ein Bein. Das andere hat er als Soldat im Artilleriefeuer verloren. Das fällt aber nur den Leuten auf, die nicht von hier sind. Die Bürger aus Salgen kennen Max Miller nicht anders.

Sein Händedruck ist fest und entschlossen. Er sagt, er müsse noch einen Anruf erledigen. Miller greift zum Telefonbuch und blättert in den Seiten. Seinen schönen Rechner mit Flachbildschirm hat er den ganzen Tag noch nicht angestellt. Er nimmt lieber die Olympia-Schreibmaschine, die daneben steht. Miller stemmt sich gegen die Zeit. Er hat nichts mehr mit den jungen Verwaltungsfachangestellten gemeinsam, die heute landauf, landab per Zeitungsannoncen für Bürgermeisterstellen gesucht werden. Leute, die Führungskräfteseminare und Rhetorikkurse besuchen. Gemeinde-Manager, wenn man so will.

"Miller ist das alles nicht", sagt Johann Egger, der an der Seite des Bürgermeisters im Salgener Gemeinderat Politik macht. Miller habe es aber geschafft, aus einem Gemeinwesen so etwas wie eine Familie zu machen, die sich jahrzehntelang die Treue gehalten hat. "Bei uns stimmt das Miteinander. Das ist genauso wichtig", sagt Egger.

Suche nach Blindgängern

Aber jetzt geht Miller die Arbeit halt doch nicht mehr so leicht von der Hand wie früher. Als der Feuerwehrkommandant mit der Vorschlagsliste für die Ehrungen hereinschaut, wirkt Miller sogar ein wenig erleichtert, als der sagt: "Brauchst nur noch unterschreiben."

Im Gespräch muss er oft nachfragen, weil er etwas akustisch nicht verstanden hat. Neulich ist er gestürzt und hat sich die Schulter verletzt. Seither kann er nicht mehr so lange auf Krücken stehen. Er ist nun noch mehr auf die Hilfe seiner Lebenspartnerin angewiesen. Jetzt müssen halt seine Nachfolger den Radweg nach Pfaffenhausen bauen und sich um den Hochwasserschutz kümmern.

Millers Bilanz spricht auch ohne diese Projekte für sich: Salgen hat nicht nur eine neue Kanalisation bekommen. Er übergibt auch eine Gemeinde mit etwa zwei Millionen Euro auf dem Sparbuch. Das Rathaus ist ein funkelnagelneuer Bau, in dem auch ein Jahr nach der Eröffnung noch die "Echtes Leder"-Schilder an den Stühlen in Millers Arbeitszimmer hängen.

Im Dorf sagen sie in Anlehnung an Millers Vornamen "Maximilianeum" zur Gemeindeverwaltung. Ihn freut das. Ein Spitzname für das Rathaus - das bleibt also am Ende eines politischen Lebens. Es begann damit, dass Miller nach dem Krieg mit seinen Bürgern Blindgänger aus den Äckern ausgegraben hat. Später plante er Neubaugebiete für die Kinder der Kriegsgeneration.

Er hat Bauern beigestanden, die im Strukturwandel auf der Strecke geblieben waren und ihre Höfe zusperren mussten. Und jetzt sorgt er dafür, dass die Alten im neuen Gemeindehaus noch unterhalten werden, bis deren Kinder, die längst anderswo Arbeit gefunden haben, mal wieder zu Besuch kommen.

"Ich bin immer gerne Bürgermeister gewesen", sagt Miller. Für ihn war Politik mehr als bloß ein Unterrichtsfach an Verwaltungsschulen. Im Krieg sind drei seiner Brüder gefallen. Deren Namen stehen heute einige hundert Meter entfernt auf einem Mahnmal, das Miller dort 1967 ein Jahr nach seinem Amtsantritt hatte errichten lassen. "Ich bin in die Politik gegangen, weil ich helfen wollte, dieses Land wieder aufzubauen", sagt er. "Die Demokratie musste her."

Im Landratsamt in Mindelheim hatte sich der Sohn eines Landwirts noch im letzten Kriegsjahr für Verwaltungaufgaben umschulen lassen. Nach dem Kriegsende setzte ihn die Militärregierung dann für drei Jahre kommissarisch als Bürgermeister in seiner Heimatgemeinde Salgen ein. 1948 verlor Miller, der später immer für parteifreie Wählergruppen antrat, bei den Kommunalwahlen knapp gegen einen Konkurrenten.

Miller ließ sich in den Kreistag wählen und übernahm trotz der Behinderung den Hof. Dass er sich nicht unterkriegen ließ, imponierte den Bürgern. 1966 wählten sie ihn zum Bürgermeister, obwohl er gar nicht auf dem Stimmzettel stand. Sie hatten einfach Millers Namen auf den Wahlschein dazugeschrieben.

In den Siebzigern hat einer seiner beiden Söhne den Hof übernommen. Von da an hatte Miller noch mehr Zeit für die Politik. Bundespräsident Horst Köhler verlieh dem Bürgermeister schon das Bundesverdienstkreuz.

Erst in den achtziger Jahren trat Miller der CSU bei. Seine potentiellen Nachfolger sind nicht zu beneiden. Zwei Landwirte bewerben sich. Johann Kienle, 60 und Vizebürgermeister, sagt: "Wenn Miller erst 75 Jahre alt wäre, würden die Leute ihn bestimmt wieder wählen." Und Kienles Konkurrent, Gemeinderat Egger, 52, hat auf sein Wahlkampf-Flugblatt geschrieben: "Bewährtes weiterführen, Neues anfangen." Dieser Miller muss schon vieles richtig gemacht haben, wenn das die Hauptbotschaften seiner möglichen Erben sind.

Beide loben Millers ausgleichende Art, die bisweilen so weit ging, dass er Mitte der neunziger Jahre allen drei Ortsteilen von Salgen gleichzeitig neue Feuerwehrautos kaufte, damit es keinen Streit in Salgen gab. Miller ist selbstverständlich auch in allen 15Vereinen der Gemeinde Mitglied. Morgens geht er um 9 Uhr ins Büro, selten verlässt er es abends vor 19.30 Uhr. Im Herrenklo steht ein Zahnputzbecher mit Zahnbürste. An mindestens drei Abenden pro Woche hat er Termine, und das Telefon liegt neben seinem Bett, wenn es draußen stürmt. Knapp 2000 Euro netto verdient Miller dafür als Bürgermeister. Aufs Geld kann es ihm nicht angekommen sein.

Die Frage, was nach dem 2. März kommt, wenn ein anderer sein Rathaus aufsperrt, hat Miller für sich selbst noch nicht beantwortet. "Mir ist die Arbeit als Bürgermeister keine Last gewesen", sagt er beim Abschied an der Rathaustür. Draußen ist es dunkel geworden. Er sagt, er bleibe noch ein wenig.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: