Staatsanwalt Rudolf Müller:Blind - wie Justitia

Dr. Rudolf Mueller

"Sechs Jahre im Dreck gelegen für so etwas. Es war widerlich", sagt Rudolf Müller.

(Foto: Reinhard Feldrapp)

Ein Staatsanwalt, der fast nichts lesen kann? Rudolf Müller bewies, dass das geht. Er kämpfte im Zweiten Weltkrieg, begleitete als Jura-Student die Nürnberger Prozesse und baute die bayerische Justiz mit auf.

Porträt von Olaf Przybilla, Hof

Es ist 17 Uhr, Rudolf Müller hat gerade etliche Stunden von seiner Zeit als Hitlerjunge auf den NS-Reichsparteitagen erzählt und davon, wie er keine zehn Jahre später als Student im Saal 600 miterlebte, wie KZ-Ärzte ihre Perversitäten zu rechtfertigen versuchten. Müller gilt als einer der maßgeblichen Staatsanwälte in der Nachkriegsgeschichte Bayerns. Sein Buch über Wirtschaftskriminalität, der "Müller/Wabnitz", ist ein Standardwerk. Ohne Müller gäbe es keine Schwerpunktstaatsanwaltschaft in Hof. Und auch nicht die größte Anklagebehörde Oberfrankens in dieser überschaubar großen Stadt.

Müller, 97, sitzt bei sich zu Hause in Hof, auf dem Tisch steht Mohnkuchen. Eben war es noch behaglich, jetzt geht ein Piepser an und man hört eine elektronische Stimme: "Es ist jetzt 17 Uhr." Auf dem Wohnzimmerschrank fängt ein Wecker an zu klingeln und hört nicht mehr auf. Müller legt die Kuchengabel zur Seite, er steht vorsichtig auf, tastet sich an einer Stuhlreihe entlang und klopft das Holz des Schranks nach dem Wecker ab. Danach ist wieder Ruhe. Und womöglich die passende Gelegenheit, Müller zu fragen, wie er das eigentlich gemacht hat.

Müller war 34, als es mit seiner Sehstärke rapide schlechter wurde, einer Erkrankung der Netzhaut wegen. 1960 konnte er nicht mal mehr lesen, er erkannte die Buchstaben einfach nicht mehr. Er war damals 42 Jahre alt, und er entschied sich, so wenige Menschen in seine Krankheit einzuweihen, wie nur irgend möglich. Ein fast blinder Staatsanwalt? Geht das überhaupt? Die Antwort wollte sich Müller wohl von niemandem geben lassen. Die wollte er selbst finden: Doch, das geht.

"Er sieht halt bissle schlecht"

Als Gerhard Schmitt, heute Leitender Oberstaatsanwalt, nach Hof kam, wurde ihm Müller so vorgestellt: "Er sieht halt bissle schlecht." Dass Müller tatsächlich sämtliche Dokumente aufs Band gesprochen werden mussten, dass er sich die wichtigsten Stellen danach selbst auf eine Kassette sprach und sich die Passagen einprägte, bis er sie auswendig konnte - das alles wusste nur der engste Kreis um ihn. Wenn Müller Verhandlung hatte, war der Saal oft bis zum letzten Platz gefüllt, die Leute bewunderten seine Art des Verhörs. "Es war wie im Theater", sagt jemand, der ihn noch als Staatsanwalt erlebt hat.

Dass da einer fast ohne Augenlicht aus den Akten zitierte, dürften die wenigsten im Saal geahnt haben. Noch als Müller in den Ruhestand ging, machte das nicht die Runde. Eine besondere Würdigung dieser schier unglaublichen Lebensgeschichte? "Nicht, dass ich wüsste", sagt Heinz-Bernd Wabnitz, früherer Generalstaatsanwalt. Müller war sein Mentor. Dass Müller "herausragend war in der Formulierungskunst", das habe die Öffentlichkeit registriert. Den Rest nicht. Müller wollte es so.

Zurück in das Wohnzimmer in Hof, wo sich Müller gerade zurück zu seinem Stuhl tastet. Was, Herr Müller, hat es mit dem klingelnden Wecker auf sich?

Müller bleibt kurz stehen, man kann ihm jetzt fast beim Überlegen zuschauen. Dann holt er tief Luft und sagt: "Der Wecker erinnert mich, dass ich Licht anschalten muss. Damit ich hier nicht im Dunkeln sitze." Müller lächelt. Ist das jetzt Erleichterung oder bildet man sich das ein?

Nicht unterkriegen lassen

Müller erzählt nun die Geschichte, die er lange nicht erzählt hat: Wie das Malheur mit den Augen vor 60 Jahren losgegangen ist, mitten im Berufsleben. Furchtbar war es, aber er habe versucht, sich nicht unterkriegen zu lassen. "Und ich habe gelernt, mir Fakten, die mir Protokollführer mitteilten, so vorzustellen, als sähe ich sie." Auch habe er sich ein "fast fotografisches Gedächtnis" antrainiert. Wenn er 53 Aktenordner vor sich hatte, habe er gewusst, auf welcher Seite Wichtiges stehe. "Das Schönste ist: Das Gedächtnis habe ich bis heute." Müller strahlt jetzt fast.

Das mit dem Gedächtnis kann er beweisen. Der 97-Jährige erzählt Details aus seinem Leben, als wären sie eben passiert. Müller wurde 1918 bei Schweinfurt geboren, als Sohn eines Schmiedemeisters. Eine Region, die von der Krise vor dem Krieg schwer getroffen wurde. Er erinnert sich gut ans Jahr 1933, an völlig unsinnige Straßenprojekte, die "der Hitler" vorangetrieben habe. Und an den Moment, als ihn einer auf die HJ ansprach. "Was ist das?", habe er zurückgefragt, er war 14 damals.

Müller wurde Jungvolkführer. "Politisch aber war ich eine Null", sagt er. Als 1933 die NS-Parteitage in Nürnberg stattfanden, trug er eine Fahne. Müller erinnert sich, wie einer bei der Parade hauchte: "Mir hat der Goebbels in die Augen geschaut." Er selbst habe "solche Erregungen nie gehabt". Schon deshalb, weil ihn selbst als Jugendlichen Zweifel beschlichen, wenn in der Zeitung von hunderttausend Menschen zu lesen war, die vor Hitler paradiert seien. Er aber als Teilnehmer wusste, dass es an der Stelle höchstens ein Zehntel davon gewesen sein können.

Wie Müller die NS-Zeit erlebte

SS beim Reichsparteitag, 1935

Auf den Reichsparteitagen in Nürnberg trug Rudolf Müller als Hitlerjunge eine Fahne, doch bald darauf regten sich Zweifel.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Gleichwohl: "Der Goebbels hat es verstanden, das so theatralisch aufzubauen, dass man es wie ein Schauspiel erlebt hat." Sogar im Parteitags-Marschieren wurde Müller ausgebildet. Eine hohe Meinung aber hatte er nicht von den Ausbildern: "Die waren geistig unterdurchschnittlich." Die Reden auf dem Parteitag? "Ehrlich gesagt, ist mir keine im Gedächtnis geblieben", sagt er, "keine einzige."

1939 war er als Soldat beim Überfall auf Polen dabei: "Wir dachten wirklich, wir marschieren da ein, weil die Polen uns angegriffen haben." Mit Propaganda, das wisse er seither, "kann man Menschen alles vorgaukeln". Erste Zweifel seien ihm beim Hitler-Stalin-Pakt gekommen. "Vorher waren die Russen blutrünstige Kommunisten." Als er vom Pakt hörte, habe er das Gefühl gehabt: "Es zerreißt mich."

Für ihn hätte der Krieg schon in den ersten Tagen zu Ende sein können, in der Nacht auf den 9. September 1939 hatte er bereits abgeschlossen mit dem Leben. Dass er die Nacht überlebt hat - die polnischen Soldaten zogen sich kurz vor ihm ohne einen ersichtlichen Grund zurück - "grenzte für mich an ein Wunder".

Müller konnte das Kriegsgefangenenlager verlassen

Müller kann entsetzliche Details erzählen, den Verstand verloren aber habe er nie darüber. Als der Krieg vorüber war, wurde er für kurze Zeit interniert. Konnte das Lager für Kriegsgefangene in Ochsenfurt aber bald verlassen. "Ich war nie in der NSDAP", sagt Müller. Auch sonst habe ihn keiner belastet.

Er kam also frei, begann ein Jurastudium in Erlangen und durfte die Nürnberger Prozesse als Augenzeuge verfolgen. Bei der Verhandlung gegen NS-Ärzte war er an zwei Tagen mit im Saal 600. Angeklagt war ein KZ-Arzt, der Schmutz in den Unterschenkel einer Frau eingeführt hatte, um die Reaktion des Menschen auf Verunreinigungen zu testen. Dem dafür verantwortlichen Regime hatte Müller keine zehn Jahre zuvor auf dem Parteitag die Fahne gehalten.

Wie fühlt man sich da? Müller wird jetzt sehr laut: "Anschreien hätte ich diesen Arzt wollen, packen und schütteln vor Wut: Was fällt dir ein, bist du denn wahnsinnig? Das war so ungeheuerlich, so unvorstellbar!" Diese beiden Tage im Saal 600 hätten ihn geprägt fürs Leben, sagt Müller. "Sechs Jahre im Dreck gelegen für so etwas. Es war widerlich."

Die Obsession, "die Großen nicht laufen zu lassen"

Vermutlich muss man diesen Teil von Müllers Leben kennen, um zu verstehen, mit welcher Obsession er sich später in die Arbeit versenkte: dem schwindenden Augenlicht trotzend, um einen Rechtsstaat mitaufbauen zu können. Und zu dem gehörte es in seiner Vorstellung unbedingt, "die Großen nicht laufen zu lassen".

Wohl auch deshalb konzentrierte er sich auf Steuerstrafsachen. Sein Lieblingsfall? Als er vor 55 Jahren, als von Steuerdelikten noch kaum einer etwas wissen wollte in Bayern, von einem Banker eine Million Mark nicht gezahlter Steuern zurückforderte. Der Banker brachte das Geld in einem Panzerwagen zur Staatsanwaltschaft, bar in Scheinen. Einen Tag lang zählten sie Geld. Dann brachten sie es, vorläufig, zur Bank zurück. Einen sicheren Tresor gab es in der Behörde nicht.

Nicht aufgeben, sagt Müller, habe er sich gedacht, als das Augenlicht schwand, "nur nicht aufgeben". Es habe sich gelohnt, findet er. "Ich habe dem Freistaat ziemlich viel Geld zurückgeholt", sagt Müller. Darauf sei er sogar ein bisschen stolz.

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