Historie:Vor 100 Jahren schafften die ersten Bayerinnen das Abitur

Historie: Der erste Abiturjahrgang 1916: Elf junge Frauen legten die Reifeprüfung ab. Alle wurden Lehrerinnen.

Der erste Abiturjahrgang 1916: Elf junge Frauen legten die Reifeprüfung ab. Alle wurden Lehrerinnen.

(Foto: oh)

Schülerinnen des St. Marien-Gymnasiums in Regensburg forschten für eine Ausstellung auf den Spuren ihrer Vorgängerinnen - sie fanden die Geschichten von adeligen Mädchen und Handwerkertöchtern mit Glück.

Von Anna Günther, Regensburg

Die jungen Frauen dürfen außerhalb der Schule niemanden treffen, der schlechten Einfluss haben könnte. Sinnloses Promenieren ist verboten, Theaterbesuche und der Umgang mit Männern sowieso. "Dabei geht die Lehrer gar nichts an, was wir in unserer Freizeit machen", sagt Carolin Schafberger. Über diese strengen Verhaltensregeln kann die Zwölftklässlerin nur den Kopf schütteln.

"Sie mussten so viele Regeln befolgen und hatten es so viel schwerer als wir", ergänzt Karina Schmitt. Dagegen war die "Disziplinarsatzung" für Helene Kranzfelder, Maria Schmid und ihre neun Mitschülerinnen Alltag und Teil einer großen Chance: Diese elf jungen Frauen durften vor 100 Jahren als erste in Bayern das Abitur ablegen. Bis dato war die Reifeprüfung Männern vorbehalten oder reichen Familien, die ihre Töchter in teure Privatkurse schickten.

Das Gebäude an der Regensburger Helenenstraße steht noch, in der Privatschule lernen bis heute nur Mädchen. Da enden aber die Gemeinsamkeiten der elf Schülerinnen des St. Marien-Gymnasiums und der elf Abiturientinnen, die vor 100 Jahren bei den Englischen Fräulein lernten. Mittlerweile ist die Diözese Regensburg Schulträger. Wie viel freier sie heute sind, ist den jungen Regensburgerinnen erst in den vergangenen Monaten bewusst geworden: Im Rahmen ihres Projekt-Seminars erforschten die Schülerinnen Leben und Lernen des Abiturjahrgangs 1916. Die Mädchen waren damals aus allen Ecken Süddeutschlands nach Regensburg gekommen.

Der erste Abiturjahrgang war eine illustre Runde: Maria von Walderdorff wuchs auf einem Schloss auf und hatte als einzige nur "genügend" in Mathe und Deutsch. Aber Walderdorff studierte Chemie, Biologie und Englisch und promovierte sogar. Maria Schmid hatte dagegen glänzende Noten und viel Glück: Die Familie, bei der ihr Vater Gärtner war, erkannte ihr Potenzial und ermöglichte dem Mädchen Schule und Studium.

Schmid wurde bei den Englischen Fräulein Lehrerin und kam 1945 als Schulleiterin nach Regensburg zurück. Die 37-jährige Schwester Melchiora Staudinger war bereits Lehrerin und machte mit ihren Mädchen das Abitur. Helene Kranzfelder, die Tochter eines Regensburger Staatsanwalts, studierte als eine der ersten Frauen in Bayern Naturwissenschaften, wie alle elf wurde auch sie Lehrerin. Ihr Bruder Alfred war im Widerstand um Graf Stauffenberg beteiligt und wurde im August 1944 von den Nazis hingerichtet.

Jede Schülerin forschte zu einer Abiturientin

Für das Seminar arbeiteten die Schülerinnen sich mit ihrer Lehrerin Dorothea Adler durch Hunderte Quellen. Sie sichteten Bilder, Zeitungen und die Tagesnotizen der Klosterschwestern. Jede Schülerin suchte sich eine Abiturientin aus und erforschte für die kleine Ausstellung in der Staatlichen Bibliothek Regensburg deren Leben.

Kurz vor der Ausstellungseröffnung an diesem Dienstag sortieren die Mädchen Exponate, drapieren Bücher und Fotos in den Schaukästen. Sie zeigen, wie es zur Schulgründung und dem Abitur kam, beleuchten den Betrieb während des Ersten Weltkriegs, als die Schule zum Lazarett umfunktioniert wurde. In ihren Tagesnotizen schreiben die Klosterschwestern von Unterricht trotz ungewaschenen, verletzten Soldaten und rationiertem Essen.

Das Projekt hat sich verselbständigt

Dass sie wegen der Ausstellungsvorbereitung wieder Stunden verpassen, kümmert die Mädchen wenig. Das Projekt habe sich etwas verselbständigt, sagt Lehrerin Adler und lacht fast entschuldigend. Mittlerweile grummelten die Kollegen schon, weil Ausstellung und Broschüre doch mehr Zeit in Anspruch nehmen als andere Seminare. Die Kooperation mit den Regensburger Schulen habe Tradition, sagt Bibliothekschef Bernhard Lübbers, diese Ausstellung sei größer als alle zuvor. Zu Recht, findet er: "In der frühen Neuzeit gab es Klöster, mit der Säkularisation war das vorbei, dann konnten Frauen 100 Jahre lang nichts anderes machen, außer zu heiraten." Erst um 1900 bekommen Frauen wieder eine Chance auf höhere Bildung.

Historie: Die Schülerinnen des St. Marien Gymnasiums, die im kommenden Jahr ihr Abitur ablegen.

Die Schülerinnen des St. Marien Gymnasiums, die im kommenden Jahr ihr Abitur ablegen.

(Foto: Dorothea Adler)

Auf Wunsch des Regensburger Bischofs Ignatius von Senestrey kamen 1903 einige Englische Fräulein, wie die Ordensschwestern Maria Wards sich nannten, vom Münchner Mutterhaus nach Regensburg und eröffneten die Höhere Mädchenschule. Bisher hatten sich die Armen Schulschwestern um die Bildung katholischer Mädchen gekümmert.

Mit 75 Schülerinnen zwischen sechs und 16 Jahren begannen "die Englischen" im Herbst 1903 in einem Provisorium ohne Tafel, Tinte, Bücher und Möbel. Sechs Monate später war das neue Schulhaus fertig. Zum zweiten Jahr kamen weitere 75 Mädchen und zehn Internatsschülerinnen. Der Schulbetrieb lief ähnlich wie heute. Die Ordensschwestern notierten "mangelnde Lust der Mädchen am Kopfrechnen" und "böse Buben" der nahen Augustenschule, die Sand und Schnee nach den Mädchen warfen oder ihnen die Zopfbänder aus den Haaren zogen.

1911 wurde die Töchterschule staatlich anerkannt. Eine neue Schulordnung ermöglichte fortan auch an höheren Mädchenschulen Gymnasialkurse. Die Schulleiterin Mater Maria Hohenegg beschloss, diese Kurse zu beantragen - obwohl (oder gerade weil) Inspizienten der Regierung der Oberpfalz nach einem Besuch schrieben, die Mädchen würden "zu sehr mit Wissenschaft überlastet, da der eigentliche Pflichtenkreis doch das Leben in der Familie ist".

Maria Hohenegg ließ sich nicht beirren: Sechs Schuljahre lang lernten die Mädchen für ihr Abitur in 16 Fächern. Die Unterschiede waren deutlich: Die Schülerinnen der höheren Mädchenschule lernten Handarbeit, Gesang und Französisch. In den Realgymnasialkursen lernten die Mädchen Physik, Chemie und hatten neben Englisch und Französisch bis zu acht Stunden Latein pro Woche. Am 19. Juni 1916 war es so weit.

Die jungen Frauen mussten sich nur schriftlich prüfen lassen

Die jungen Frauen legten binnen vier Tagen in Religion, Deutsch, Französisch, Englisch, Latein, Mathematik, Physik, Chemie und Mineralogie ihre schriftlichen Prüfungen ab. Morgens und am Nachmittag. "Anders als die Männer, wurden sie in jedem Fach auch noch mündlich geprüft. Wahrscheinlich als Test, ob sie wirklich alles allein konnten", sagt Lehrerin Adler. Dass die ersten bayerischen Abiturientinnen in Regensburg lernten, sei allein das Verdienst von Maria Hohenegg.

Den Mädchen des Projekt-Seminars war vorher nicht bewusst, dass an ihrer Schule Geschichte geschrieben wurde. Die eigene Historie zu präsentieren, sei in der Schule nicht üblich, sagt Adler. Das soll sich ändern. Wenn die Glaskästen in der Bibliothek abgebaut werden, möchte Adler einen Platz in der Schule suchen, um an die elf ersten Abiturientinnen zu erinnern.

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