Gymnasien:Sicherheitslücken bei Abiturprüfungen werden wohl bestehen bleiben

Abitur

Auch Schulleiter sollen die Aufgaben erst am Prüfungstag erfahren. Mit krimineller Energie, sagt einer, wäre ein Betrug aber möglich.

(Foto: Felix Kästle/dpa)
  • Ein Schüler des Neutraublinger Gymnasiums ist im vergangenen Jahr vom Abitur ausgeschlossen worden, denn seine Antworten hatten große Ähnlichkeiten mit der Musterlösung.
  • Der Fall hat Sicherheitslücken bei den bayerischen Abschlussprüfungen offenbart: Der Vater des Schülers leitet ein anderes Gymnasium.
  • Von Seiten des Kultusministeriums gibt es offenbar keine Konsequenzen: Man verwies stets auf die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die eingestellt wurden.

Von Andreas Glas und Anna Günther, Neutraubling

Die Neutraublinger Abitur-Affäre hat im vergangenen Sommer eklatante Sicherheitslücken bei den bayerischen Abschlussprüfungen offenbart. Und diese werden wohl auch weiter bestehen bleiben - denn das Kultusministerium will nicht darauf reagieren. Die Sicherheitsmaßnahmen bei den Abschlussprüfungen sollen weder verändert, noch verschärft werden, teilte ein Sprecher mit. Und das, obwohl der Fall noch immer viele Schulleiter und Lehrer beschäftigt.

Im vergangenen Juni hatten Lehrer eines Gymnasiums in Neutraubling (Landkreis Regensburg) festgestellt, dass die Prüfungen eines Schülers in den Fächern Deutsch und Französisch nahezu identisch waren mit der Musterlösung. Das Kultusministerium erstattete Anzeige gegen unbekannt, die Justiz ermittelte erfolglos wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses. Besonders heikel an diesem Vorfall: Der Vater des Schülers ist Direktor an einem anderen Gymnasium. Und nur Schulleiter und ihre engsten Mitarbeiter haben im Vorfeld der Prüfung Zugriff auf die Abituraufgaben.

Hört man sich unter Direktoren um, ist auch Monate nachdem die Unregelmäßigkeiten bei den Abiturprüfungen des Schülers öffentlich wurden, von Sakrileg die Rede, von Fassungslosigkeit und dem schlimmsten Verstoß gegen den Diensteid. Überall ist der Fall Gesprächsthema, im größeren Umkreis von Neutraubling schlagen die Emotionen bei manchen sogar in Wut um. Schulleiter müssen sich Fragen und teils sogar Verdächtigungen anhören. Aber solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, gilt die Unschuldsvermutung.

Der Schüler bestreitet den Unterschleif. Abschreiben ist für ihn nicht strafbar. Er hatte dagegen geklagt, dass seine Abi-Prüfung nicht anerkannt wurde - und seine Klage eine Woche vor Verhandlungsbeginn am Regensburger Verwaltungsgericht zurückgezogen. Man einigte sich auf einen Vergleich. Die Verfahrenskosten wurden aufgeteilt. Inhaltlich seien aber keine Absprachen getroffen worden, heißt es.

Die Regensburger Staatsanwaltschaft hatte ihre Ermittlungen wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses bereits im Herbst eingestellt. Abgeschlossen sind diese allerdings nicht, teilte Oberstaatsanwalt Theo Ziegler mit. Das Verfahren sei nur vorläufig beendet, bei neuen Ermittlungsansätzen werde es wieder aufgenommen.

Das Ministerium hält nichts von mehr Kontrolle

Im Kultusministerium hatte man stets auf die Ermittlungen verwiesen und sich vorbehalten, erst dann Konsequenzen zu ziehen, wenn Ergebnisse vorliegen. "Aber wenn selbst die Staatsanwaltschaft mit ihren Instrumentarium nichts herausbekommt, haben wir keine Chance", sagte ein Sprecher. Stattdessen setzt man im Haus von Schulminister Ludwig Spaenle auf Vertrauen: Sollte am Verdacht etwas dran sein, könne man nur hoffen, dass der Schüler sich bei seinem zweiten Abitur-Versuch im Mai an die Regeln hält. Er wiederholt derzeit die zwölfte Klasse und schreibt seine Prüfungen noch einmal. Allerdings nicht in Neutraubling, sondern an einer anderen Schule.

Die Abituraufgaben gelten als bestgehütetes Geheimnis an Gymnasien, sie werden versiegelt übergeben und bis zum Prüfungstag in Tresoren verwahrt. Verschlossen sind die Umschläge mit Klebestreifen, auf die das Siegel des Ministeriums gedruckt ist. Schulleiter holen die Abituraufgaben Tage vor den Prüfungen ab und verwahren sie an einem sicheren Ort.

Betrug ist theoretisch möglich - mit krimineller Energie

Manche wählen den Tresor im Direktorat, andere gar die nächste Polizeidienststelle. In der Regel öffnen die Schulleiter die Umschläge mit den Aufgaben und dem Erwartungshorizont vor Zeugen und erst wenige Stunden bevor die Prüfungen beginnen. Den Umschlag schon vorher vorsichtig zu öffnen und am Prüfungstag vor den Fachkollegen so aufzureißen, dass der Schein gewahrt bleibt, sei theoretisch möglich - mit krimineller Energie, sagt ein Direktor.

In der Praxis gibt es sogar externe Kontrollen, um Schulleiter vor jedem Verdacht zu schützen - und gar nicht erst in Versuchung zu führen. Eigentlich. Denn die Aufsicht durch sogenannte Ministerialkommissäre tritt nur ein, wenn Kinder oder andere enge Verwandte eines Schulleiters an dessen Gymnasium Abitur machen. Dann muss der Chef eines anderen Gymnasiums statt des Direktors an der betroffenen Schule das Abitur durchführen. Das bedeutet, dass dieser externe Schulleiter an zwei Gymnasien Prüfungsausschüsse leitet, die Aufgaben öffnet, Protokolle erstellt und seine eigenen Lehrer die korrigierten Arbeiten der Kollegen an der anderen Schule stichprobenartig nachkorrigieren müssen.

Der Neutraublinger Fall offenbart nun eine Lücke: Dieses Prozedere gilt nicht, wenn die Kinder eines Schulleiters an einem anderen Gymnasium ihr Abitur machen. Zwar ist es unter Schulleitern üblich, sich auch dann aus den Prüfungen herauszuhalten, wenn die eigenen Kinder an der Nachbarschule Abitur machen, aber gesetzlich dazu verpflichtet sind sie nicht. Die betroffenen Direktoren werden lediglich gebeten, am Prüfungstag die Betreuung ihren Stellvertretern zu übergeben.

Kommissäre werden dann keine entsandt. Vertreter des Ministeriums haben offenbar hinter den Kulissen längst beschlossen, die betroffenen Schulleiter noch einmal gezielt auf die Problematik hinzuweisen. Offiziell aber verweist das Kultusministerium auf die etablierten Sicherheitsvorkehrungen. Zu aufwendig wäre die Entsendung von Kommissären, zu viele Schulleiter müssten neben der Abschlussprüfung an der eigenen Schule auch das Abitur an anderen Gymnasien beaufsichtigen.

Dabei wäre die Sicherheitslücke auch einfacher zu schließen: Das Ministerium könnte mit einer klaren Dienstanweisung für den Fall, dass Kinder von Direktoren an anderen Schulen Abitur machen, stärkere soziale und offizielle Kontrolle durch den Prüfungsausschuss erzeugen.

Auf die Frage, ob die Entsendung von Ministerialkommissären für alle Schulen gilt, verneint ein Ministeriumssprecher. An private Schulen könne man keine "Staatskommissäre" schicken, man müsse darauf vertrauen, dass die Beteiligten sich an die Regeln halten. Tun sie das nicht - und werden erwischt -, könnten sie die Anerkennung durch den Freistaat und damit Fördergeld sowie die Genehmigung verlieren, Prüfungen abzunehmen. Bei den Vertretern der Privatschulen löst diese Aussage Erstaunen aus. Für die privaten Gymnasien würden die gleichen Gesetze gelten wie für staatliche, heißt es aus dem Verband. Ständig seien Kommissäre an den Schulen, das sei sogar positiv, damit "wir alle auf der sicheren Seite sind".

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