Gewalttat in Mittelfranken:Ende einer Amokfahrt

Autofahrer erschießt bei Amoklauf zwei Menschen

Ein Gehöft gegenüber des Tatorts in Tiefenthal-Leutershausen bei Ansbach.

(Foto: dpa)

Der erste Schuss fiel um kurz nach zehn: Ein 47-jähriger Mann tötet aus dem Auto heraus zwei Passanten. Jetzt sucht ein Ort in Mittelfranken nach einer Erklärung.

Report von Katja Auer, Olaf Przybilla und Uwe Ritzer, Ansbach, Leutershausen

Friedlicher kann ein Dorf kaum sein als Tiefenthal im Landkreis Ansbach. Ein Windrad, ein paar Häuser umgeben von Wäldern, Wiesen, Mais- und Getreidefeldern. Vom Nachbardorf Lengenfeld erreicht man den Ort nur über eine enge, geschwungene Straße. Links vor dem Ortsschild ein Bolzplatz, gleich dahinter kommt das Gehöft, vor dem der erste Schuss fiel. Ein ockerfarbenes Haus mit langer Scheune und einem hübsch gepflegten, mit Maschendraht eingezäunten Gemüsegarten, im Hof stehen drei Schubkarren in Reih und Glied. Gerade war Siegfried Heß dort, der CSU-Bürgermeister von Leutershausen. Jetzt ringt er mit den Worten. Wohl das schwerste Verbrechen in der Geschichte des Ortes, sagt er.

Ein 47 Jahre alter Mann hat in zwei Ortsteilen von Leutershausen zwei Menschen erschossen. Offenbar einfach so, aus einem silbernen Cabrio heraus. Eine 82-jährige Frau und ein zehn Jahre jüngerer Radfahrer sind tot, ein weiterer Mann wurde von dem Amokläufer bedroht, ein Landwirt wurde von ihm beschossen, die beiden blieben unverletzt.

Innenminister Joachim Herrmann kommt gegen Mittag in die Kreisstadt Ansbach. Vor sechs Jahren war er auch da, damals hatte ein Amokläufer in einem Gymnasium in Ansbach mehr als ein Dutzend Menschen verletzt. "Umso entsetzter bin ich, dass es erneut einen Amoklauf gab", sagt er. Der mutmaßliche Täter ist 1968 geboren, die Mitarbeiter einer Tankstelle in Bad Windsheim haben ihn knapp zwei Stunden nach dem ersten Mord überwältigen können.

Herrmann dankt den mutigen Angestellten, die wohl Schlimmeres verhindert hätten. In Windsheim heißt es am Abend, der Mann sei auf dem Weg gewesen zu einer Klinik, in der er als Krankenpfleger gearbeitet haben soll. Dort soll er den Job verloren haben. Die Ermittler konnten dazu noch nichts sagen. Am frühen Abend geht der Senior-Chef in der Tankstelle schon wieder ans Telefon. Die Spurensicherung sei fast fertig, sagt er, gleich würden sie noch mal für eine Weile öffnen. Seine Mitarbeiter hat er heimgeschickt, alle hätten sie toll reagiert. 30 Angestellte hat das Autohaus mit der dazugehörigen Tankstelle. Bernd Gurrath, der Senior-Chef, hat selbst auch mitgeholfen, er hat dem 47-Jährigen mit einem Kabelbinder die Füße gefesselt. Die Radiomeldung hätten sie gehört, erzählt er, und auf einmal habe ein Monteur das gesuchte Auto vor der Reparaturannahme stehen sehen. "Wir werden überfallen", hat er gerufen und daraufhin sei der Amokläufer durchgedreht. Er fuchtelte mit einer Waffe in der Tankstelle herum, bis er sie kurz auf den Tresen legte. Da griff die Kassiererin beherzt zu und flüchtete mit der Waffe durch die Hintertür. Als der Mann zu seinem Auto wollte, vielleicht um die zweite Waffe zu holen, standen die Mechaniker schon da und überwältigten ihn. Gurrath hörte das Geschrei in seinem Büro. "Da habe ich mir meinen Golfschläger genommen und bin raus." Der Mann habe sich mit Hände und Füßen gewehrt und um sich geschlagen. "Dann hat er gejammert, dass ihm alles wehtut." Wegen der Kabelbinder. Gurrath klingt gefasst. Ach ja, sagt er, wenn man so lange im Geschäft sei. Kurz nach zehn Uhr war der erste Notruf bei der Polizei eingegangen, nach den Schüssen auf die Frau in Tiefenthal. Wenig später kam schon die Mitteilung, dass wohl derselbe Täter einen 72-jährigem Radfahrer aus Leutershausen erschossen hatte. Dann bedrohte er einen weiteren Mann und schoss auf einen Traktorfahrer in der Nähe von Flachslanden. Kriminalpolizeilich war der Mann bisher nicht auffällig, sagt der Leitende Oberstaatsanwalt Gerhard Neuhof. Bei seiner Festnahme habe er wirres Zeug geredet. Ein Psychiater sei hinzugezogen worden. Vom Ergebnis seiner Untersuchung wird es abhängen, ob ein Haftbefehl erlassen oder die Unterbringung in der Psychiatrie angeordnet wird, sagt Chefermittler Hermann Lennert. Bislang gebe es keinen Hinweis darauf, dass sich Täter und Opfer kannten. Man müsse davon ausgehen, dass es sich um Zufallsopfer handle. Der 47-Jährige war Sportschütze. Er hatte die Erlaubnis für zwei großkalibrige Waffen, einen Revolver und eine Pistole. Mit einer Waffenbesitzkarte durfte er diese kaufen und besitzen. Mit beiden Waffen soll er unterwegs gewesen sein. Einen Waffenschein aber hatte er nicht, das heißt, er durfte die Waffen nicht in der Öffentlichkeit bei sich führen. Bei den Ansbacher Schützenvereinen ist der 47-Jährige nicht bekannt. Am Nachmittag haben sich die beiden Vereine der Stadt und die aus den Ortsteilen zusammentelefoniert mit dem Ergebnis: Der Tatverdächtige war kein Mitglied bei ihnen. Es kannte ihn auch keiner. Norbert Rzychon spricht für den Schützenverein Germania Ansbach 1882. Der Amokläufer könnte die Waffenbesitzkarte an einem anderen Ort erworben haben, möglicherweise vor vielen Jahren. "Das ist wie beim Führerschein, das überprüft dann eben keiner mehr", sagt er. Dass jetzt wieder die Schützenvereine ins Visier geraten, darauf stelle er sich nun ein. Und auch die Kollegen. Bürgermeister Heß ist schockiert. "Bislang waren wir ein kleines, friedliches Städtchen", sagt er. "Die Tat wirft uns komplett aus der Bahn." Die Dame kannte er persönlich, im Oktober hätten sie und ihr Mann Goldene Hochzeit gefeiert. Am Morgen saß die Frau unter einem Baum, vor ihrer Haustür. Der Autofahrer soll angehalten und etwas gefragt haben. Die 82-Jährige sei aufgestanden und habe ein paar Worte mit ihm gewechselt. Danach habe sie sich umgedreht. Der Autofahrer habe ihr unvermittelt in den Rücken geschossen und sei davon gefahren. Drei Stunden nach der Tat liegt die übliche Stille über dem Dorf. In Tiefenthal leben 30 Familien, alle haben sich zurückgezogen, nur einer sitzt auf der Bank vor seinem Haus. Ob der die Frau gekannt hat? Natürlich hat er sie gekannt, sagt er, in Tiefenthal kennt man sich. Aber sagen will er nichts jetzt. Was da gerade in seinem Ort passiert ist, dafür hat er keine Worte. Den Bürgermeister hat am Morgen der Landrat informiert, da war der Täter noch auf der Flucht. Eine "Amoklage in Leutershausen", sagte er ihm, so heißt das im Behördendeutsch. Am Tag zuvor, erzählt er, habe er sich noch gedacht, wie froh er sei, dass die Waffengesetze in Deutschland so streng seien. Und dann ist die "Amoklage" plötzlich in seiner Stadt. 5500 Einwohner hat Leutershausen, 49 Ortsteile, in vielen leben nur ein paar Menschen. In Rammersdorf, dem zweiten Tatort, sind es kaum mehr als zehn. Das Dorf liegt etwa fünf Kilometer entfernt, um die Mittagszeit kommt man nicht mehr ran. Die Schüsse fielen unweit vom Schloss, dem einzigen Gebäude des Ortes: eine barocke Wasserschlossanlage, seit 1571 von Freiherren aus Franken bewohnt. Ein Wander- und ein Radweg führt vorbei, der kleine Kümmelbach plätschert. Man sieht eine Weiherkette und kaum Verkehr. Eine Frau an der Tankstelle in Bad Windsheim sagt, sie kenne den Mann von der gemeinsamen Arbeit aus der Klinik. Dort habe sie bis Ende Juni als Putzfrau gearbeitet. Sie habe den 47-Jährigen häufiger bei Rauchpausen getroffen. "Er hat nie wirklich viel gesprochen", sagt sie. Blass sei er gewesen, mitunter habe er abwesend gewirkt. Auf sie habe er immer häufiger "den Eindruck gemacht, dass er sehr gestresst ist, wie kurz vor einem Burnout".

Heß ist nach dem Anruf des Landrats nach Tiefenthal aufgebrochen. Da lag die 82-Jährige noch auf dem Boden, die Familie war da. Er hat die Tochter in den Arm genommen, der Ehemann konnte nicht fassen, was passiert war. Der habe die ganze Zeit auf die Stelle gestarrt, wo seine Frau erschossen wurde. "Der arme Mann konnte das gar nicht realisieren." Heß hat Trauerbeflaggung angeordnet. Er ist den Tränen nahe. "Es ist grausam", sagt er.

Amokläufe in Bayern

November 1999: Ein 16-jähriger Lehrling schießt in Bad Reichenhall aus dem Fenster der elterlichen Wohnung auf alles, was sich bewegt. Er tötet seine ältere Schwester, zwei Nachbarn und einen 59-Jährigen, der sich vor dem gegenüberliegenden Krankenhaus aufhielt. Februar 2002: Ein 22 Jahre alter Mann ermordet zwei frühere Kollegen in einer Dekorationsfirma in Eching. Dort war er kurz zuvor entlassen worden. Anschließend fährt er nach Freising und erschießt den Rektor seiner früheren Wirtschaftsschule. Einem Lehrer schießt er ins Gesicht und verletzt ihn schwer. Danach tötet sich der Amokläufer. September 2009: Ein Schüler läuft am Gymnasium Carolinum in Ansbach Amok. Der 18-Jährige betritt mit einem Beil, zwei Messern und drei Molotowcocktails das Schulgebäude. Er verletzt zwei Schülerinnen schwer sowie sieben Schüler und eine Lehrerin leicht. Am 29. April 2010 wird der Täter zu neun Jahren Jugendstrafe und unbefristeter Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik verurteilt. SZ

Autofahrer erschießt bei Amoklauf zwei Menschen

In dieser Tankstelle in Bad Windsheim wurde der 47-jährige Mann schließlich überwältigt. Davor parkt sein Mercedes-Cabrio.

(Foto: Nicolas Armer/dpa)
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