Gewalt gegen Rettungskräfte:"Mensch, wir sind doch die Guten"

Sie werden bespuckt, getreten, geboxt - dabei wollen sie doch nur helfen: Immer öfter sind Rettungskräfte im Einsatz heftigen Attacken ausgesetzt. Selbst Fachleute können sich die Zunahme von Gewalt nicht erklären - zumal besonders häufig Menschen aus dem bürgerlichen Milieu ausrasten.

Olaf Przybilla

Thomas Ziegler macht seinen Job mit Leidenschaft, und wahrscheinlich ist das eine der Grundbedingungen, um als Sanitäter beim Bayerischen Roten Kreuz (BRK) anderen Leuten das Leben zu retten. Vor zwei Jahren aber ist Ziegler ins Grübeln gekommen, ein Mann hatte dem Nürnberger Lebensretter ein mundgroßes Stück Fleisch aus dem Oberarm gebissen.

Gewalt gegen Rettungskräfte: Blaulicht und Martinshorn - früher flößte das Respekt ein. Inzwischen werden Rotkreuzhelfer oft von jenen angegriffen, die sie retten wollen.

Blaulicht und Martinshorn - früher flößte das Respekt ein. Inzwischen werden Rotkreuzhelfer oft von jenen angegriffen, die sie retten wollen.

(Foto: Claus Schunk)

So etwas passiert, sagt Ziegler, als erfahrener Rettungsassistent wisse man um die Gefahr, auch mal zwischen die Fronten geraten zu können. Mehr als zwei Monate war Ziegler nicht einsatzfähig, dann kehrte er zurück zum Roten Kreuz.

Als er sich weiteren Übergriffen ausgesetzt sah, hat sich Ziegler entschieden, etwas Grundsätzliches zu ändern. Er besorgte sich eine Stichschutzweste - auf eigene Kosten. Wenn er heute seine Wohnung verlässt, sagt seine Partnerin manchmal: "Du bist inzwischen fast genauso ausgerüstet wie ich." Zieglers Partnerin ist Polizistin.

Joachim Düll ist gerade im Dienst, er arbeitet wie Ziegler als Rettungsassistent beim Nürnberger BRK. Düll gilt unter seinen Kollegen als besonders nachdenklicher Mann, einer, der nicht zu Überreaktionen neigt. Es ist Mittag, und früher hätte Düll einen Kollegen vermutlich ausgelacht, der um diese Tageszeit eine Schutzweste am Körper getragen hätte.

Aber inzwischen trägt Düll selbst immer eine Weste, um jede Tageszeit, also jetzt auch bei einem harmlos erscheinenden Einsatz am Nürnberger Südklinikum. Die Aggression habe "enorm zugenommen in den vergangenen Jahren", sagt er, und niemand könne einem im Voraus sagen, ob eine Rettungsfahrt normal verlaufe - oder urplötzlich ins Dramatische kippe.

Vor zwei Jahren, als der Kollege Ziegler mit einem Mann um dessen Leben rang und dabei ein Stück seines Oberarms verlor - da war das an einem ganz normalen Nachmittag, sagt Düll. Er selbst wurde am helllichten Tag mit einer Schusswaffe bedroht. "Da kommen Sie schon ins Grübeln", sagt er.

Brigitte Lischka scrollt auf ihrem Computer nach unten, in der "Dokumentation der Aggressions-Ereignisse" des Nürnberger Roten Kreuzes. Lischka ist BRK-Kreisgeschäftsführerin, sie kennt natürlich diese Liste, aber jetzt, wo sie die einzelnen Vorfälle seit Februar noch einmal einzeln aufruft, reagiert auch sie erschüttert.

Sanitäter mit Stichschutzweste

70-mal sahen sich seither ihre Leute gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt, 70-mal in sieben Monaten wurde einer bespuckt, einer getreten, einer geboxt. Ein Angehöriger eines Verletzten, der in ein Krankenhaus gebracht werden sollte, hat kürzlich die Heckscheibe eines Einsatzfahrzeugs zertrümmert. Die Liste führt mögliche Gründe für die Übergriffe auf, sie versucht es jedenfalls.

Gewalt gegen Rettungskräfte: Dienst nur noch mit Schutzweste: zwei Nürnberger Rettungskräfte.

Dienst nur noch mit Schutzweste: zwei Nürnberger Rettungskräfte.

(Foto: oh)

Natürlich steht dort oft "Alkohol" oder "Drogenmissbrauch", bisweilen aber auch einfach nichts: Weil sich niemand wirklich erklären kann, warum da jemand gegen einen Helfer gewalttätig geworden ist. Zum Spaß, erzählt Brigitte Lischka, "sagen wir uns manchmal: Mensch, wir sind doch die Guten". Der Spaß aber ist in letzter Zeit immer mehr gewichen, jetzt bleibe da oft nur noch Fassungslosigkeit.

45 Sanitäter des Bayerischen Roten Kreuzes in Nürnberg haben sich inzwischen eine Stichschutzweste zugelegt. Sie mussten diese selbst bezahlen, denn eine Schutzweste für Rettungskräfte - das zählt bislang nicht zu jener Schutzkleidung, die von Krankenkassen für notwendig erachtet wird. Man wolle das Geld - eine Weste kostet 100 Euro - demnächst aber den Mitarbeitern ersetzen, sagt Lischka. Schließlich legten sich die Retter ihre Weste nicht zum Spaß an.

Was ist los mit einer Gesellschaft, die auf ihre Helfer losgeht? Was passiert da in den Köpfen von Meschen? Oder ist das alles übertrieben, oder gar nur die subjektive Wahrnehmung von Betroffenen?

Stefan Plank, er ist Notarzt in Nürnberg, hält lange inne, ehe er antwortet. Dann beginnt er mit dem vermeintlich Einfachsten: Die rein subjektive Wahrnehmung derer im Einsatz "ist das sicher nicht", sagt der Notarzt. Er kenne praktisch keinen Helfer, der andere Erfahrungen mache. Und dann sagt er etwas, was die Denkpause erklärt: "Ehrlich gesagt: Ich glaube, es gibt keine wirkliche Erklärung für diese Zunahme von Gewalt."

Plank trägt selbst keine Stichschutzweste. Er ist der Meinung, dass nur eines wirklich helfe in bedrohlichen Situationen: "Weglaufen - und dann Hilfe rufen", sagt er, "etwas anderes bleibt uns nicht übrig." Andererseits kennt der Notarzt natürlich das Gegenargument: Es gibt Situationen, in denen Weglaufen nicht mehr möglich ist. So sagt ihm das auch ein Kollege, ein Notarzt, der inzwischen bei jedem Einsatz eine Schutzweste anlegt. Plank will das nicht. "Wo soll das alles enden?", frage er sich.

Am Ende versucht er doch noch eine Erklärung: "Der Respekt vor den Hierarchien ist weg." Früher habe sich automatisch eine Gasse gebildet, wenn er als Notarzt zum Unfallort kam. Heute müsse er dafür regelrecht um Erlaubnis bitten.

Es sind nicht die Punker, die ausrasten

Thomas Ziegler kennt inzwischen die Situationen, in denen Weglaufen nicht mehr möglich ist. In der Situation, in der er einen Teil seines Oberarms verloren hat, stürzte sich ein Mann auf ihn. Er hatte gedroht, Suizid zu begehen. Ziegler war als einer der ersten am Einsatzort. Warum sich der Mann plötzlich in seiner Wohnung auf ihn schmiss, auf den Mann, der ihn rettete, bleibt Ziegler ein Rätsel.

Später ist ihm das noch mal ganz ähnlich passiert: Ein Mann versperrte die Wohnungstür und drohte ihm schwere Gewalt an. Diese Situationen, ist sich Ziegler sicher, "sind nicht vorhersehbar", und schon gar nicht nütze es, von bestimmten Wohngebieten auf das Gefahrenpotenzial zu schließen. Die Gefahr lauere weniger am Bahnhof, "es sind nicht die Punker oder Sandler", die ausrasteten. "Es sind Leute quer durch alle Altersgruppen und Schichten", sagt Ziegler.

Und Düll sagt: "Die Punker haben einen Kodex." Verliere da wirklich einer die Kontrolle, komme ein anderer und beruhige ihn. Am Nürnberger Bahnhof ist Düll und Ziegler noch nie etwas passiert

Am Christkindlesmarkt dagegen schon: Ein Mann, man würde ihn als gutbürgerlich beschreiben, flippte in einem der Bratwurst-Restaurants in der Nähe des Weihnachtsmarktes aus. Er hatte wohl Liebeskummer, so gab er im Nachhinein an, stellte sich ohnmächtig und wollte - möglicherweise - Mitleid erregen. Als Ziegler ihn bat, vom Boden aufzustehen, drehte er durch. Erst neun Mann eines Unterstützungskommandos vom nahen Christkindlesmarkt gelang es, den Mann zu bändigen.

Bernhard Strobel überzeugt das alles nicht. Strobel ist stellvertretender Leiter des Rettungsdienstes beim Nürnberger Arbeiter-Samariter-Bund. Auch er fährt Einsätze, und auch er hat beobachtet, dass die Aggressionen gegen Helfer zunehmen. "Deshalb aber stichsichere Westen?", fragt Strobel.

Er hält das für den falschen Weg: "Das senkt die Schwelle der Gewalt noch", befürchtet er. "Möglicherweise glauben irgendwann alle, dass wir Helfer Schutzwesten tragen - und dann?" Er selbst setze vielmehr auf Deeskalations-Training. Und darauf, dass sich die Sanitäter nicht selbst überschätzen. "Wir sind keine Polizisten" sagt Strobel, "sollen wir denn irgendwann noch schusssichere Westen tragen?" Beim Roten Kreuz in Nürnberg sieht das derzeit die Hälfte der Rettungskräfte so wie Strobel - und verzichtet auf die Westen. "Es wird heiß diskutiert", sagt Düll.

Leonhard Stärk, Landesgeschäftsführer beim BRK, kennt die Debatte. Nürnberg, berichtet er, "ist Vorreiter in der Sache". Aus Ingolstadt und aus München kamen in letzter Zeit Anfragen von einzelnen Sanitätern, außer den Nürnbergern aber will momentan kein anderer Verband Stichschutzwesten anschaffen. Egal aber, was sich am Ende durchsetze, sagt Stärk. "Eines dürfte klar sein: Ohne Grund zieht man keine solche Weste an."

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